Der „Im Fokus“-Bericht von Robert hat klar aufgezeigt, dass die Gegentore im Heimspiel gegen Karlsruhe nicht durch taktische Vorgaben entstanden sind, sondern jeweils individuellen Fehlern im Verteidigungsverhalten folgten, die auch nicht von Walters Spielidee provoziert wurden. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass der Hamburger SV seit längerer Zeit mit Problemen in der Defensive zu Kämpfen hat. Zu wenig kompakt in den Strukturen gegen den Ball, zu viel Risiko im Spiel am Ball und immer wieder auftretende Fehler (Grafik 1 und 2), die teilweise wie vorprogrammiert wirken.
Also irgendwie muss es dann ja doch an Walter liegen, der es nun seit 2,5 Jahren nicht geschafft hat effektive Lösungen beim Verteidigen zu finden. Manche werden nun vielleicht anmerken wollen, dass der HSV im ersten Walter-Jahr sehr wohl defensive Stärken aufweisen konnte, denn man hatte mit 35 Gegentoren die erfolgreichste Defensive der Liga. Natürlich darf hier auch nicht vergessen werden, dass gefallene Tore als Resultat vieler Abläufe im Spiel, auf sich allein gestellt kein guter Indikator für Leistung sind. Denn der Fußball ist nun mal auch von Zufällen und Fehlern geprägt, die im Ergebnis zwar ausschlaggebend sein können, damit aber schnell einen überproportionalen Einfluss haben. Mit anderen Worten, vielleicht hatte der HSV einfach Glück, dass er trotz einer unsicheren Defensive, nur wenige Gegentore zugelassen hat. Und tatsächlich lässt sich schnell erkennen, dass man laut sogenannten xG-Werten statistisch mehr Gegentore verdient gehabt hätte. Wie viele? 44! Das ist ein Unterschied von 9 Toren oder anders ausgedrückt, von 0,26 Toren pro Spiel. Das mag zunächst viel klingen und es zeugt tatsächlich nicht von der besten Defensive der Liga. Zugleich war man in der Saison 2021/22 aber selbst damit die 3. beste Mannschaft. Und auch in der aktuellen Saison würde man sich unter den Top 3 der besten Defensiven wiederfinden. Somit war der HSV in der ersten Walter-Saison defensiv zwar nicht so stark wie die Gegentore es vermuten lassen, aber er war zumindest unter den besten Mannschaften der Liga. Aber natürlich gab es bei Ballverlust auch immer mal wieder Probleme und besonders gegen den risikofreudigen Aufbau von Tim Walter haben sich einige Stimmen ausgesprochen und dass trotz einer vergleichsweise geringen Fehlerrate in dem Jahr (Grafik 3).

Und tatsächlich wurde sich diesbezüglich in der Saison 22/23 angepasst. Sowohl Sebastian Schonlau als auch, und besonders Mario Vušković haben ihr Andribbeln und die vielen progressiven Läufe am Ball stark runtergeschraubt. Eine geringere Distanz die durch Ballführungen zurückgelegt wurde und weniger progressive Ballführungen bestätigen das (Grafik 4 und 5). Zugleich konnten sich die bevorzugten Außenverteidiger, Muheim und Heyer, diesbezüglich weiterentwickeln (Grafik 6 und 7).




Durch diese Anpassungen wollte man wohl das Risiko im Aufbau reduzieren, damit Spiele nicht so leicht durch individuelle Fehler beeinflusst werden können. Ein statischeres Auftreten im Zentrum der Kette und grundsätzlich weniger raumgewinnende Aktionen aus der Abwehr heraus (25% weniger), sind dafür durchaus ein legitimes Mittel. Und tatsächlich ist bei der Chancenqualität von den Gegnern ein Stabilisierungseffekt zu erkennen. Denn ab dem sechsten Spieltag ist eine Reduzierung und dann Stabilisierung der pro Spiel zugelassenen xGA-Werte (xG der Gegner) zu erkennen, die sich erst mit dem Ausfall von Mario Vušković wieder auflöste (Grafik 8). Der Plan scheint somit geklappt zu haben. Eins ist jedoch auffällig. Obwohl die Qualität der zugelassenen Chancen pro Spiel weniger wurde, konnten sich die Gegner häufiger als in der ersten Saison in den Strafraum des HSV spielen (Grafik 9). Und dies liegt auch daran, dass durch den weniger dominanten Spielstil, die Gegner mehr Ballbesitz hatten als vorher. Es ist also festzustellen, dass das Verteidigen des eigenen Tores nicht nur von den Abwehraktionen der Spieler oder den Strukturen gegen den Ball abhängt. Vielmehr erzeugt das eigene Spiel am Ball die Umstände dafür wie die Mannschaft sich gegen den Ball verhält und verhalten kann.


Somit lohnt es sich das Abwehrverhalten der Spieler über die 2,5 Jahre statistisch genauer zu betrachten, denn dort werden ein paar Veränderungen deutlich, die wiederum nicht in der defensiven Kette anfangen, sondern schon vorne bei den Angreifern. Denn das Abwehrverhalten der Angreifer auch ein Indiz dafür, wie aggressiv die Mannschaft den Ball schon früh zurückgewinnen will. Und tatsächlich ist diesbezüglich eine Reduzierung bei Defensiven Aktionen (-22%) durch den Stürmer und die zwei Flügelspieler zu erkennen. Das beinhaltet Zweikämpfe und Duelle gegen Dribbelnde Gegner, sowie abgefangene, geblockte, geklärte und zurückgewonnene lose Bälle, aber auch Fouls und Kopfballduelle. Gleichermaßen sind Zweikämpfe im offensiven und mittleren Drittel wenige geworden (-26% und -32%). Ähnlich geht es im Mittelfeld weiter, wo von der ersten zur zweiten Saison auch weniger defensive Aktionen (-14%) umgesetzt werden. Besonders abgefangene Bälle und gewonnene Kopfballduelle fallen dabei auf (jeweils -21% und -25%). Und das sind gerade solche Aktionen gegen den Ball, die es einem ermöglichen den Ball proaktiv zurückzugewinnen. Und auch hier lässt sich erkennen, dass im Angriffsdrittel weniger Zweikämpfe stattfinden (-15%). Die Konsequenzen der Entwicklung in den vorderen Reihen, sind also besonders durch die Abwehrspieler zu spüren. Interessant ist hierbei, dass die Abwehrkette zwar etwas weniger Zweikämpfe führt (-4%), wenn die Werte nach Ballbesitz bereinigt werden, aber mehr (+7%) wenn man dies nicht tut. Was könnte das bedeuten? Einfach gesagt: In den Ballbesitzphasen der Gegner, agiert man in allen Mannschaftsteilen gegen den Ball konservativer und weniger proaktiv als in der ersten Saison. Dadurch dass der Druck für die Gegner meist schon höher im Feld größer war, gingen Abspiele eher verloren und besonders lose Bälle konnte der HSV häufiger zurückgewinnen (+13%). Nun ist man seit der 2. Saison zum einen weniger risikofreudig und dominant im Ballzurückgewinnen und zum anderen hat man als Konsequenz dessen auch weniger Ballbesitz. Somit muss die Abwehrkette insgesamt mehr Zweikämpfe führen (+14%) und Bälle blockieren (+24%) oder klären (+16%). Und auch Fouls werden mehr begannen (+22%). Mit anderen Worten, mehr Rettungstaten und Notlösungen in der Kette.
Alle Entwicklungen bei den Defensiv-Werten haben sich diese Saison nochmal verschärft. Besonders im Mittelfeld fällt auf, dass seit der Saison 21/22 weniger defensive Aktionen (-24%) stattfinden. Und wiedermal stechen die abgefangen Bälle (-46%) heraus, genauso wie die Duelle gegen Dribblings (-31%). Letztendlich leidet die Abwehrkette dadurch noch mehr. Denn sie ist im Vergleich zur ersten Saison wesentlich mehr in Zweikämpfe im defensiven Drittel verwickelt und dafür um einiges weniger im offensiven und mittleren Drittel (-37% und -42%). Paolo Maldini hat einmal gesagt: „Wenn ich einen Zweikampf führen muss, habe ich schon einen Fehler gemacht“. Zwar werden erfolgreiche und aggressive Zweikämpfe von Verteidigern häufig positiv betrachtet, aber letztlich sind solche Szenen 50-50 Situationen, dessen Ergebnis von den individuellen Qualitäten der gegenüberstehenden Spieler abhängt. So könnte man auch die aktuelle Situation in der Innenverteidigung beim HSV betrachten. Natürlich hat ein Innenverteidigerduo, dass aus Ramos und Ambrosius oder Hadžikadunić besteht, nicht die gleiche Qualität wie eins mit Schonlau und Vušković. Aber vielleicht muss der Ansatz gerade deshalb ein ähnlich mutiges Spiel wie in der Saison 2021/22 sein, damit die Verteidiger weniger defensiven Aktionen ausgesetzt sind, die zugleich näher am eigenen Tor stattfinden.

Gegen den Ball haben dafür zuletzt leider die Spielerprofile im Mittelfeld und im Angriff gefehlt. Dass Dompé diesbezüglich Schwächen hat, ist jedem bekannt. Auch deshalb könnte die Verpflichtung von Okugawa sich positiv auswirken. Im Mittelfeld gab es zugleich das Problem, dass Reis lange ausgefallen ist. Pherai ist weniger ein Spieler der Kontrolle bietet und robust auftritt (Grafik 10), sondern besonders Kreativität verleiht. In seinem Passspiel ist er sogar einer der kreativsten Spieler der Liga. Zugleich sind seine Fähigkeiten in der progressiven Ballführung aber auch besser als die von Poręba, was ein wichtiger Aspekt in Walters Spielidee ist. Denn wie ich bereits in meinem letzten Beitrag erklärt habe, legt der HSV ligaweit den größten Fokus darauf über Ballführungen Räume zu gewinnen. Und da Bénes ebenfalls limitiert in diesem Bereich ist, hätte Walter ihn aus seiner Sicht wohl aus dem Spiel nehmen müssen, um Poręba reinzubringen. Nun ist Reis aber endlich zurück, was etwas Hoffnung machen darf.
Das große Fragenzeichen bleibt die Innenverteidigung. Nicht unbedingt nur wegen ihrem individuellen Abwehrverhalten, dass leider zu häufig von Fehlern geprägt ist, sondern auch weil das Hamburger Spiel dann gut funktioniert, wenn die Abläufe im Aufbau effektiv umgesetzt werden können. Ambrosius wird bei einem solchen Ansatz leider nur eine untergeordnete Rolle spielen können (Grafik 10), aber wenn man vereinzelt mal wieder, wie gegen Schalke zuletzt, tief verteidigen möchte, kann er trotzdem eine Waffe sein. Die Fehleranfälligkeit von Hadžikadunić ist somit leider sehr unglücklich. Denn auch wenn er lange nicht die Fähigkeiten in der Ballführung hat wie Vušković und auch nicht so sicher darin ist in die 6er-Zone zu schieben, um sich dort mit dem Rücken zum gegnerischen Tor anspielbar zu machen, ist sein raumgewinnendes Passspiel sehr gut (Grafik 11).

Um Robert zu zitieren: „Hadžikadunić ist ein guter komplementärer Innenverteidiger zu Schonlau. Wenn links über Spielen-und-Gehen gelockt und die Verlagerung über Hadžikadunić gespielt wird, dann hat er ein wirklich starkes progressives Passspiel“. Ob dies auch im Verbund mit Ramos funktionieren kann, muss noch bewiesen werden. In den ersten 20. Minuten des Hinspiels gegen Kaiserslautern hat es aber schon mal ziemlich gut funktioniert. Vielleicht wäre es diesbezüglich auch mal eine Idee, zwischen Ramos und Hadžikadunić die Seiten zu wechseln, damit ein ähnlicher Ablauf wie mit Schonlau ausgespielt werden kann. Wobei es bei den Spielerprofilen von Ramos und Schonlau auch ein paar Unterschiede gibt, die es sich vielleicht lohnt hier in der Zukunft zu thematisieren.
Nur der HSV!
Hat DHF nicht in TW erster Saison in der RR gesagt, dass sich der Teamrat mit Walter zusammengesetzt hat und man dieses offensive Spiel von Walter dort schon im gemeinsamen Einvernehmen angepasst hat, da die Spieler die Philosophie für zu risikobehaftet wahrnahmen? Und ist es nicht ein Treppenwitz, dass das Spiel seit dieser Zeit immer anfälliger geworden ist, statt das man stabiler wurde?
An diese Aussage von DHF erinnere ich mich leider nicht mehr. Interessanterweise gibt es schon in der ersten Saison eine leichte Korrelation zwischen Ballbesitz und Spielen die in den eigenen Strafraum zugelassen wurden. In der Auswertung zu den Veränderungen habe ich aber nur die Unterschiede der jeweiligen Saisons betrachtet. Die jeweiligen Halbserien separat zu betrachten, wäre mit der Datenauswertung nochmal etwas aufwändiger gewesen. Benedikt