In der Nachbetrachtung vom HSV-Auswärtsspiel bei Hertha BSC Berlin ging es wenig ums Sportliche. Viel mehr waren Tennisbälle und Proteste im Fokus der aus der Mode gekommenen Sonntagsvormittag-Talkshows. Aber auch sportlich hatte Hertha gegen HSV etwas zu bieten.
Beim HSV gab es personelle Überraschungen. Nemeth stürmte statt dem angeschlagenen Robert Glatzel. Pherai spielte statt Ludovit Reis. Bei der Hertha war die spannendste Personalie Linksaußen Fabian Reese, der nach seiner Corona-Infektion gegen Kaiserslautern im Pokal sein Comeback feierte. Er sollte jedoch zuerst auf der Bank Platz nehmen. Auch Scherhant startetet zunächst von der Bank, dafür liefen Winkler und Palko Dardai für die Hertha auf den Flügeln auf.
Das Spiel brachte ungefähr das, was man erwarten konnte. Der HSV war das spielbestimmende Team. Man agierte in den HSV typischen Strukturen mit Ball. Benes und Pherai pendelten zwischen den Linien, Dompe und Jatta hielten die Breite. Die Hertha hatte gegen den Ball einen eher unerwarteten Ansatz. Man agierte aus einer Art 4231, allerdings schob Bouchalakis vor in die zweite Linie zwischen Winkler und Dardai. Barkok und Niederlechner übernahmen gegen den Ball den tiefen Part vor der Viererkette.
Hertha gegen den Ball oft in Unterzahlsituationen
Die Hertha war konservativ, fast vorsichtig im Spiel gegen den Ball. Nur Tabakovic und situativ Palko Dardai attackierten den HSV-Aufbau in erster Linie. Heuer Fernandes, Ramos und Ambrosius entgegneten so wenige Drucksituationen aus dem Hertha-Anlaufen. Ganz im Gegenteil sogar. Palko Dardais Rolle im Anlaufen konnte der HSV konsequent für sich nutzen um die erste Hertha-Linie zu überspielen. Dardai pendelte im Anlaufen zwischen Ambrosius und Muheim. Allerdings schaffte er es nie den HSV-Linksverteidiger mit seinem Deckungsschatten aus dem Spiel zu nehmen, sodass Ambrosius’ erste Anspielstation bei Druck von Dardai permanent Miro Muheim auf der linken Seite war.
Aus dieser Position heraus, konnte Muheim oft ohne Druck das HSV Spiel aufbauen. Sei es entlang der Seitenlinie, über die ballnahe 8 oder eine Verlagerung über Innenverteidiger oder 6er Meffert. Hertha befand sich nach dem Anlaufen Dardais auf der rechten Defensivseite oft in Unterzahl gegen den HSV Angriff. Mit dem folgenden Herauskippen von Niederlechner spielte der HSV oft an der Seitenlinie 2 vs. 2 oder hatte zentral die Option das Spiel über Laszlo Benes oder Jonas Meffert zu verlagern.
Auch die größte HSV Möglichkeit der ersten Hälfte resultierte aus dem mangelhaften Hertha Anlaufverhalten. Das Andribbeln von Ambrosius nimmt nicht nur Tabakovic aus dem Spiel, sondern im Verhalten gegen den Ball auch Palko Dardai. Es reicht ein Andribbeln und Querpass zu Miro Muheim aus um die rechte Defensivseite von Hertha BSC zu öffnen. Nemeth pinnt Kempf und Leistner in der Zentrale, sodass sich die Passspur von Muheim zu Pherai in die Tiefe öffnet. Es fehlen bei Nemeth und Benes nach der Flanke Pherais Zentimeter für die frühe HSV Führung.
Es war ein zerfahrenes Spiel. Viele Unterbrechungen spielten wohl eher der Hertha in die Karten, denn Spielfluss kam nie wirklich auf an diesem Samstagabend. Die Hertha hatte zudem wenig Interesse an progressivem Ballbesitzspiel. Die Berliner agierten mit Ball aus ihrem typischen 2-1er Aufbau mit einem tiefem Bouchalakis vor den Innenverteidigern und hohen Außenverteidigern. Neben langen Bällen hatte die Hertha wenig Lösungen im eigenen Ballbesitzspiel. Die progressiven Dribblings von Reese fehlten sehr im Spiel der Hertha. Das in der Preview beschriebene Steil-Klatsch Spiel kam kaum zur Geltung, da der HSV es entweder gut verteidigte oder durch ihr hohes Anlaufen in ihrem 4132 die Hertha im richtigen Moment unter Druck setzte, sodass kein brauchbarer Ball in Richtung Tabakovic geschlagen wurde. Lediglich im Spiel über die rechte Seite konnte die Hertha situativ gefährlich werden.
Leistner eröffnete gegen das wenig breite HSV 4231 mit einem Ball auf den Rechtsverteidiger Kenny. Dieser suchte in der Folge den ballnahen 10er Niederlechner. Dieser versuchte dann entweder mit Dardai die Tiefe zu bespielen oder den Doppelpass mit RV Kenny. Schaffte es die Hertha in die Tiefe, so war Tabakovic in der Zentrale die erste und meistens einzige Option in der Box. Allerdings kam die Hertha aus dieser Dynamik zumindest einmal gefährlich vor das Hamburger Tor. Tabakovic traf nach einer Flanke von Niederlechner den Pfosten und es fehlten auch hier nur Zentimeter um die Dynamik des Spiels grundlegend zu verändern.
Führung glücklich, aber nicht zufällig
Dass der HSV im Ballbesitz wahnsinnige Dynamiken erzeugen kann, ist wahrscheinlich für Hertha-Coach Dardai nicht überraschend. Überraschend war es viel mehr, dass der HSV sich diese Qualitäten nur selten zu Nutzen machte. Die Horizontalität im Passspiel von Ramos und Ambrosius war mehr als nur auffällig, auch hatte ihr Positionsspiel eine hohe Statik, sodass es meist nur einen eröffnenden Ball auf die AV-Position gab. Alles andere als den Walterball, denn wir kennen und vielleicht auch lieben gelernt haben. Umso ironischer, dass das 0:1 aus einer Situation fällt, in der Gui Ramos nach einer Balleroberung den gesamten Fokus der Hertha-Defensive auf sich zieht.
Nach dem Ballgewinn von Ramos, agiert er sofort im Umschaltspiel und treibt den Ball im Dribbling bis kurz vor die Mittellinie. Die Hertha ist zunächst unsortiert und um den Ballführenden verteilt. Kempft rückt hoch, auch Bouchalakis attackiert den HSV-Innenverteidiger. Es öffnen sich in den Folge auf der ballfernen Seite die Räume für die HSV-Offensive. Nach einem Verlagern über Benes kommt am Ende Muheim in die Schusssituation. Das 0:1 fällt natürlich etwas glücklich, es ist dennoch auffällig dass der HSV nach guten Aktionen seiner Innenverteidiger das erste Tor des Spiels erzielt.
Die Hertha ist in der Folge aggressiver im Spiel gegen den Ball. Das 4321 wird ersetzt durch ein 442 / 424 mit hoher Mannorientierung. Niederlechner ist nun der Mann in erster Linie gegen den Ball, Barkok und Bouchalakis dahinter.
Die Hertha gleicht zwar etwas glücklich nach dem Fehler von Heuer Fernandes aus, allerdings fehlte gerade mit Ball immer noch die Idee und vielleicht auch die letzte Überzeugung. Aber auch dem HSV fehlte mit Ball etwas der Faden. Es fehlte fast schon der Mut gezielt nach vorne zu spielen. Der HSV war konservativ, die einfachen Überzahlen im Aufbau ließen sich gegen das Hertha 442 nicht mehr so leicht herstellen. Umso glücklicher, dass der HSV in gewissen Momenten immer noch von ihren fast schon Vintage Walterball Strukturen profitieren kann.
Tim Walter wechselt den Sieg ein
Die Wechsel von Glatzel, Reis und Königsdörffer veränderten die Statik zwar wenig, aber gerade Ludovit Reis und Ransford Yeboah Königsdörffer waren am Ende daran beteiligt, dass der HSV mit 3 Punkten im Gepäck nach Hamburg reisen konnte. Genauso beteiligt? Gui Ramos und Jonas Meffert.
Im Aufbau erhält Gui Ramos ohne viel Gegnerdruck den Ball. Er spielt den Ball auf Ambrosius und setzt zudem zu einem diagonalen Lauf in den 6er Raum an. Der zu dem eingewechselten Prevljak und auch Bouchalakis orientieren sich an dem HSV-Innenverteidiger. Simultan kippt Jonas Meffert in die Zone, die Gui Ramos freigibt.
Die Bewegung von Gui Ramos öffnet zudem die Passspur an den eingerückten Königsdörffer, der ohne Druck angespielt werden kann. Während Ludovit Reis Barkok im Rücken wegläuft, spielt Königsdörffer tief auf den breiten Pherai.
Leistners Orientierung an Glatzel, Kenny Orientierung an Dompe geben Ludovit Reis eine enorme Freiheit nach der Flanke von Pherai. Es fällt das 1:2. Nicht ganz unverdient.
Der HSV entführt am Ende 3 Punkte aus Berlin. Und das an einem Spieltag an dem alle Mitstreiter um den Aufstieg (bis auf den Stadtrivalen) in einer Art federn lassen, sei es durch Punktverluste oder dämliche Platzverweise.
Der HSV liefert ein ermutigendes Fussballspiel in Berlin ab. Gegen den Ball sattelfest und bis auf wenige Momente solide. Auch das 1:1 fällt in meinen Augen eher unter die Art gut verteidigt. Schaut man sich die Szene genauer an, dann fällt einem auf, dass Reese bei seinem Abschluss eine Wand von HSV Spielern vor sich findet. Es ist mehr als glücklich für die Hertha, dass aus dieser Szene der Ausgleich fällt.
Es ist für den HSV ein Auftritt, aus dem man sehr viel positives ziehen kann. Defensiv war es sehr solide, der HSV bringt die Offensivstrukturen mit, um sofort gefährlich zu werden. Letzteres sollte sich noch mal verstärken, wenn Schonlau endlich zurückkehrt.
Die Vorzeichen für die nächsten Wochen erscheinen nicht zu verkehrt. Der HSV wirkt reif, viele Verletzte kehren zurück. Es warten machbare Aufgaben. Fast schon Pflichtaufgaben, wenn man endlich zurück in die erste Bundesliga kehren möchte.