Im Fokus – Das Scheitern des Tim W. und was wir nun brauchen?

– ein Kommentar von Robert M.

„Das ist einfach unser Innenverteidiger, der da vorne den Tiefenlauf macht um den inversiven Außenmittelfeldspieler den Raum zu reißen.“

So ungefähr war meine erste Reaktion als ich mit dem Walterball konfrontiert wurde. Ich war begeistert. Gerade meine aktive (Amateur-)Fußballerkarriere beendet, suchte ich nach einer neuen Verwendung in meinem heißgeliebten Hobby. Endlich – ohne die wochenendlichen Verpflichtungen – würde sich eine Dauerkarte lohnen. Und nach Wolff, Hecking und Thioune sollte nun im Sommer 2021 ein relativ neuer, den Medien zu Folge auch sehr spezieller, offensiver Trainer übernehmen, Tim Walter sein Name. Eine besondere Spielidee soll er haben und überall anecken – prinzipiell also zwei Sachen, die mir persönlich erstmal immer gefallen. Auch zwei Sachen, die den letzten Trainer ausgemacht haben, die mich das letzte Mal so richtig in eine eher ungesunde Vereinsverbundenheit gesogen hatte – bei Christian Titz. Dies vorweg muss das Folgende immer mit der Tatsache im Hinterkopf gelesen werden, dass ich Trainer liebe, die den Ball haben wollen und nicht nur auf (erzwungene) Fehler des Gegners warten.

Heute, am 12.02.2024, wurde er entlassen – und das nimmt mich mehr mit, als es eigentlich sollte.
Nur warum ist er gescheitert? – der Versuch einer persönlichen Einordnung:
Alles an dem Verlust von Vuskovic festzumachen, ist wohl zu einfach. Auch die Verletzung  Schonlaus in dieser Saison hat sicherlich nicht geholfen – das sind unsere IVs Nr. 1 und 2 – dürfen aber keine Ausreden sein. Die polarisierende Außendarstellung kann auch kein Grund sein – für mich hatte dies nie egozentrische, sondern viel mehr „schützende“ Gründe. Die Mannschaft konnte ruhig weiter arbeiten, währenddessen sich die Medien an Walter reiben konnten. Auch individuelle Entwicklungen hat er mit seinem Trainerteam enorm vorangetrieben – Marktwerte geschaffen.

Somit erscheinen die Gründe fußballerisch vielfältig. Auf „X“ habe ich das bereits verkürzt damit versucht auszudrücken, dass er im Laufe der 2 ½ Jahre (im HSV – Universe kommt das fast der Ära Christian Streich gleich), trotz des immer stärkeren Aufgebens seiner Spielidee es nicht geschafft hat, eine Balance herzustellen.

Was ich damit meine:
Tim Walter startete mit der Implementierung seiner Vollgas-Spielidee. Im Spiel mit Ball gab es ein eine klare Idee des Positionsspiels. Wer aber effektiv wo innerhalb dieser Vorgabe steht, ist komplett egal. Durch ständiges Spielen&Gehen sollten Räume geöffnet und der Ballvortrag vorbereitet und durchgeführt werden. Viel Personal in des Gegners Hälfte erlaubt diese Idee mit ständigen Gegenpressing zu paaren und somit zu brutaler Dominanz zu gelangen.
Strukturell bringt dies natürlich mit, dass bei verfehltem Gegenpressing der Gegner auch mal mit „offenen Fuß“ einen vielversprechenden Konter fahren oder einen Ball hinter die naturgemäß hohe Kette spielen kann.

Diese Kontertore wurden Tim Walter medial und von dem, was man aus dem Medien entnehmen konnte, auch intern extrem angekreidet. Diverse „Analysen“ ließen ihn von seiner Philosophie abweichen und aus meiner Sicht begründet sich hier der Anfang vom Ende. Sicherlich spielen hier auch die Abwesenheiten von Ludo Reis und Sebastian Schonlau eine große Rolle, dennoch möchte  ich hier nicht in die Individualkritik oder –Beurteilung von Spielern abdriften, sondern eher auf die aus meiner Sicht deutlichen Veränderungen im Spiel des HSV eingehen:

Mit Ball beschränkte sich Walter zunehmend auf einen konservativeren Aufbau. Maximal ein IV „durfte“ teilweise im klassischen 3-2 Aufbau eine Linie höher rücken. Mindestens ein AV sichert auf letzter Linie immer mit ab. Somit haben wir in fast allen Spielsituationen mindestens FÜNF SPIELER hinter dem Ball und die Hälfte der Mannschaft in der Restverteidigung. Offensive Durchschlagskraft entwickelte man trotzdem – was zum Einen der immensen individuellen Qualität der Mannschaft, zum Anderen aber auch der Art und Weise geschuldet ist, wie diese eingesetzt wurde. Am deutlichsten wird dies bei der unterschiedlichen Einbindung der Spieler auf der 8 und den beiden Außenspielern Jatta und Dompe. Auf der 8 schaffte es Walter Benes so einzubinden, dass er zwischen den Linien immer wieder mit offenem Fuß in die Abschlusssituationen kam, die ihn so stark machen. Dafür verzichtete er auf die Einbindung Benes’ in weiträumige Positionsrocharden. Der dynamische Pherai hingegen wurde vermehrt in Wechselbewegungen mit dem abkappenden Glatzel gebracht. Für mich auch auffällig war, dass beide 8ter vermehrt die zentrale hielten und eben nicht mehr wie im „Ursprungs-Walterball“ – in weiträumige Positionsrocharden gingen. Auch dies ist nur die logische Weiterführung des konservativeren Aufbauansatzes.
Auch bei den beiden Außen wurde deutlich, dass Walter hier individuelle Prinzipien entwickelte, die weit weg von der Ursprungsidee des Walterballs waren. Ganz vereinfacht kann man diese ausdrücken mit:
Wenn Dompe den Ball hat, gehen wir alle weg und lassen ihn im 1v1 machen.
Bei Jatta in derselben Situation schaffen wir Nähe, um ihn via Doppelpass oder Spiel über den Dritten hinter die Kette zu bringen.
Und auch gegen den Ball wurde angepasst:
Die Kette schiebt nicht mehr maximal nach, sondern sicherte vermehrt die Tiefe (mehrere Meter hinter der Mittellinie). Wir können auch situationsbedingt in einem 442 – tiefen Block verteidigen. Das pure Mann v. Mann in der letzten Linie wird prinzipiell vermieden!

Das klingt alles ja irgendwie ganz logisch – nur warum funktionierte das jetzt nicht?
Ich glaube, dass nur die größten Hater der Meinung sein können, dass das Offensivspiel des HSV ein Problem war. Also muss es ja am Spiel gegen den Ball liegen.
Für mich gibt es hier drei Gründe:

  1. Zwischen den Welten

Mein Hauptgrund ist, dass das Spiel, gerade im heimischen Stadion irgendwo zwischen Walterball und Sicherheitswahn lag und dadurch einfach nicht mehr zusammenpasste. Im heimischen Volkspark lief man größtenteils weiter hoch an. Das ist verständlich, da die meisten Gegner im Volkspark eigentlich die Hose voll haben und sich dadurch in ungenaue (ausgelöst durch den Druck) lange Schläge flüchten. Diese langen Schläge sind somit prinzipiell leichter zu verteidigen, als solche, die gezielt und ohne Druck in einen geplanten Raum geschlagen werden können.
Das Problem war nun aber aus meiner Sicht, dass nicht mehr die ganze Mannschaft hier bedingungslos diesen Druck durchschob und die letzte Kette nun ein wenig tiefer stand (10m sind Welten im Fußball). Dies ergab eine geringere Kompaktheit und einen Raum, den der arme Jonas Meffert sowie ein weiterer 8ter einfach nicht zu zweit kontrollieren können. Verteidigte man pure im tiefen Block (Schalke), dann gelang dies. Jedoch war hier zuvor die enorme Mithilfe der schlechten Schalker Mannschaft von Nöten und warum dies eine Insellösung gegen Schalke war, habe ich ja bereits im ersten Fokus-Artikel erläutert. Auch die biederen Berliner konnten so entspannt wegverteidigt werden. Mannschaften, die diese Räume aber gezielt attackierten und somit auch nur ein wenig komplexere Entscheidungen vom verteidigenden HSV forderten, fanden so entweder Lösungen oder konnten sich auf eine Sache verlassen – zur Not macht der HSV individuelle Fehler. Und dies bringt mich zum 2. Punkt:

  1. Die Individuelle Qualität

Die tiefere Kette und der oben beschriebene größere Raum erfordert schlichtweg mehr Entscheidungen der Verteidiger des HSV. Wann springe ich als AV auf meinen Gegner hoch? Wenn der Stürmer, wie Glatzel, sich fallen lässt – wie und bis wohin springe ich hier als IV nach? Wie sichere ich den Raum dahinter? Wie stelle ich mich überhaupt zum Ball? Wann übergebe ich im Raum?

Hier bedarf es einer enormen Qualität in der Entscheidungsfindung beim Vorverteidigen. Wer sehen möchte, was das bedeutet, gucke sich bitte einmal Bayer Leverkusen an. In deren 5-2-3 System finden sich automatisch Räume hinter der ersten 3er Reihe. Bei Bällen in diesen Raum, springt meist ein IV vor und presst den Ballempfänger – dahinter sichert der Ex-Hamburger Tah ab. Dabei rückt der IV aber nie unendlich weit aus seinem angestammten Raum heraus, sondern übergibt nach dem kurzen Sprung den herauskippenden Stürmer und nimmt seinen angestammten Platz in der tieferen Kette wieder ein.
Beim HSV der Rückrunde war quasi jede Entscheidung falsch. Ambrosius sprang wohin und wann er wollte, verfolgte Spieler sogar kreisligamäßig über 20m hinweg bis zur Mittellinie und entblößte die gesamte Kette. Ramos wusste zunehmend gar nicht mehr welche Räume er nun schließen soll. Miro Muheim ist hier ebenso zu nennen, der nicht immer die richtige defensive Entscheidung traf (siehe Tore vs. Karlsruhe).

Gui Ramos hat aus meiner Sicht hier eindeutig den besten Eindruck gemacht. Auch er hat immer wieder mal einen nicht gewonnenen Zweikampf drin, wo er sich dumm anstellt. Dennoch fing er noch viele Bälle ab und stopfte viele Lücken, die seine Nebenmänner rissen. Und hier sei dann nochmal erwähnt – es sind halt auch nur die IV #3 und #4… Welche Sicherheit ein Schonlau der Mannschaft und insbesondere auch seinem Nebenmann in der IV via Kommunikation & individuellem Verteidigungsverhalten gibt, konnte man diese Saison in seinen paar Einsätzen alleine wieder bestaunen – welch ein Unterschied.

  1. Verändertes UmschaltenDEF.

Ich würde behaupten, dass der HSV unter Walter noch nie so wenig Kontrolle und hohe Ballgewinne hatten, wie in den letzten Wochen seiner Tätigkeit. Dem „Sicherheitsgedanken“ geschuldet, wurde das effektive Gegenpressing mit dem realen Ziel „BALLEROBERUNG“  vermehrt aufgegeben und mit einer geringeren Zahl an Spielern in Ballnähe nach Ballverlust durchgeführt (Gründe, s.o.). Und hier dreht sich dann die Mühle zu den individuellen und räumlichen Problemen, die ich zuvor beschrieben habe…

Fazit: Ein Kompromiss ist in der Ehe häufig notwendig, wenn beide damit glücklich sind. Im Fußball werden Kompromisse aber schnell auch zu faulen Kompromissen, weil sie vom Gegner ausgenutzt werden können. Und dies ist aus meiner Sicht Tim W. nebst unglücklichen Verlusten von Personalien zum Verhängnis geworden.  Ich weiß nicht, ob es unbedingt besser gelaufen wäre, wenn man Stevo und Gui in noch mehr 1v1 Duelle um lange Klärungsaktionen des Gegners geschickt hätte. Ich hätte es aber gerne gesehen, wenn Walter mit wehenden Fahnen untergegangen wäre.

Nur was kommt jetzt? Und wen brauchen wir?

Mein Wissen über den Spielstil oder die Art von Trainern und deren Philosophien reicht nur bis zum Wissen der medialen Berichterstattung. Ich möchte mich daher nicht auf einen Namen versteifen – ich kenne mich hier einfach national sowie international nicht in der Tiefe aus- sondern viel mehr ein Profil skizzieren, was ein Trainer beim HSV (nebst dem Umgang mit Medien) können sollte, um nachhaltig erfolgreichen Fußball spielen lassen zu können.

Unser Kader schreit einfach nach „Fußball“. Wenngleich wir über ein hervorragendes offensives Umschaltspiel verfügen, bestechen die meisten Spieler eher durch das gepflegte Fußballspiel als durch „Hau-Ruck-Fußball-Mentalität“.
Insbesondere im Zentrum bilden Meffert – Reis – Pherai – Benes die pure Spielstärke, die es zu nutzen gilt. Gleiches gilt für die Einbindung der spielstarken Außenverteidiger und des Künstlers Dompe. Einzig auf dem rechten Flügel können unterschiedliche Profile in einen Spielstil eingebunden werden.
Der neue Trainer sollte es deshalb beherrschen ein gutes Ballbesitzspiel zu implementieren. Beim Kader ist dies sowohl über ein klassisches Positionsspiel möglich, als auch über Elemente des sogenannten „Relationismus“. Stuttgart, Pauli und vor allem Leverkusen nutzen in Deutschland einige Elemente davon.

Kurzer Exkurs: Was damit gemeint ist, sprengt hier den Rahmen – es lässt sich aber aus meiner Sicht (Danke @MartinRafelt) auf die Kernfrage reduzieren: Wenn der Ball auf einer Seite im Druck ist – spiele ich durch den Druck, oder versuche ich zu verlagern.
Heißt für mich als Spieler: Ist der Ball auf der anderen Seite – suche ich die Nähe, um zu helfen und mich „durchzuzocken“, oder warte ich passiv auf eine Verlagerung.

Darüber hinaus steht der neue Trainer vor der Mammutaufgabe endlich eine Balance zu finden. Wenn Schonlau nun zeitnah zurückkommt wäre die Rückkehr zum bedingungslosen Gegenpressing möglich, da ich der Restverteidigung dann wieder trauen würde mehr individuelle Duelle für sich zu entscheiden.
Dafür muss ich als Trainer in der Lage sein, die entsprechende Haltung vermitteln zu können. Nach Ballverlust MUSS der erste Impuls von ALLEN die Balljagd sein. Bedingungslos – Foul oder Ballgewinn. Diese Haltung müsste der neue Trainer wieder wecken.
Auch ein konservativer Ansatz mit einem tieferen Block und weniger individuellen Entscheidungen wäre denkbar, jedoch aus meiner Sicht derzeit nicht förderlich. Das dritte und auch das vierte Tor vs. Hannover 96 zeigt doch deutlich, dass wir auch im tiefen Block durch individuelle Fehler die Tore heraufbeschwören – von daher halte ich diese Fehler dann doch lieber möglichst weit weg von meinem Tor.

Was die Formation angeht, haben wir ja bereits letzte Woche ein wenig über Möglichkeiten einer 3er-Kette fabuliert. In meinem Kopf ist es in der derzeitigen Form einfach komplett abwegig Jean Luc Dompe nicht spielen zu lassen. Verabschiedet man sich einmal nur von dieser Personalie, wäre der Grundgedanke eines 3-2-5 / 3-2-2-3 mit Ball durchaus charmant und schränkt das Profil und die Spielidee des möglichen Trainers für mich nicht ein.
Das Profil sollte für mich also im Kern beinhalten:

  • Klare Vermittlung von Ballbesitzprinzipien
  • Wecken der notwendigen Haltung der Spieler im Gegenpressing
  • Vermittlung der Wichtigkeit des individualen Defensivverhaltens
  • Klare Prinzipien im Spiel gegen den Ball (Guidelines, die den Spielern bei Entscheidungen helfen)
  • Schaffung der Kompaktheit gegen den Ball im Angriffspressing

@rBsne

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