Fehlende Konstanz, ständige Anpassungen und verlorene Sicherheit: Welche Herausforderung hat Baumgart beim HSV und wie passt es mit seiner Spielidee zusammen?

Der HSV hatte bis jetzt keine einfache Saison. Zwar wusste zunächst keiner wie lange Kapitän Schonlau und Vize-Kapitän Reis ausfallen werden und auch die ersten fünf Spiele liefen insgesamt sehr gut, was die unten angezeigte Grafik zur xG-Leistung beweist. Fußballerisch zeigten sich aber schon zu Beginn gewisse Schwächen im Verteidigen des eigenen Tores. Was im ersten Spiel gegen Schalke noch nicht endgültig bestraft werden konnte, sorgte dann im zweiten Spiel gegen Karlsruhe dafür, dass kein perfekter Start von 5 Siegen in 5 Spielen hingelegt werden konnte. Und trotzdem, eine Punkteausbeute von 13 aus 15 möglichen Punkten und ein Punkteschnitt von 2,6 war durchaus ansehnlich. Danach hat sich allerdings ein Negativtrend entwickelt, der sich nur bedingt wieder aufhalten ließ. Der Grund dafür war aber nicht durchweg der gleiche, sondern das Resultat aufeinanderfolgender Schwächen, Reaktionen und Unsicherheiten. Grundsätzlich kann man dies in mehrere Spielbereiche und Phasen der Saison aufteilen.

Walter gegen den Ball
Während die ersten Spiele von einer relativ niedrigen Zweikampfquote ausgezeichnet waren mit wenigen bis keinen Zweikämpfen im offensiven Drittel, nahm das hohe Anlaufen mit vielen Zweikämpfen im Drittel des Gegners immer mehr die Überhand.

Zugleich gab es aber auch die Problematik, dass der Schlüsselspieler und Vize-Kapitän Ludovit Reis plötzlich lange ausfiel und so ein anderer seine Position im Mittelfeld einnehmen musste. In der Konstellation aus Meffert, Bénes und Pherai wurde zumeist ein Mittelfeld geboten, dem besonders eins fehlt, Robustheit und Zweikampfstärke. Hier der defensive Vergleich zwischen Reis und Pherai.

Dadurch entstand immer mehr der Umstand, dass der HSV im mittleren Drittel im Schnitt den ligaweit geringsten Anteil seiner Zweikämpfe führte, wodurch schnell von unzureichender Kompaktheit gesprochen wurde, weil die Gegner meistens zu leicht im Zentrum durchbrechen konnten.

Glücklichweise war dies nicht das Ende der Entwicklung, denn das Trainerteam und die Mannschaft reagierten. Die Zweikämpfe im offensiven Drittel wurden nach ca. Hälfte der Hinrunde immer weniger, wodurch zugleich mehr Zugriff mit Mittelfeld gefunden werden konnte. Mit anderen Worten, es wurde immer weniger aggressiv und nach vorne orientiert verteidigt. Dies hatte jedoch eine Konsequenz. Im Versuch durch mehr Besonnenheit zum Erfolg zu kommen, verlor man immer mehr seiner Zweikämpfe. Zwischen dem 9. Und 14. Spieltag viel der 5-Spiele-Durchschnitt von 66% auf 51%, weshalb man nach Abschluss der Hinrunde die ligaweit schlechteste Zweikampfquote hatte. Umso überraschender war es als Tim Walter nach den ersten Spielen der Rückrunde davon sprach, dass man nun den besten Zweikampfwert der Liga hätte. Aber tatsächlich hatte er Recht. Der Tiefpunkt am 14. Spieltag konnte bis zum 21. Spieltag auf 72% angehoben werden. Diese Entwicklung fing schon zum Ende der Rückrunde an, wurde dann aber in der Winterpause wohl nochmal konkret trainiert. Zugleich wurden die Zweikämpfe im offensiven Drittel aufs absolute Minimum reduziert. In drei der ersten vier Rückrundenspiele führte man keinen einzigen Zweikampf dort. Insgesamt verteidigte man nun pragmatischer, was durchaus Erfolg hatte.

Denn nicht nur die Zweikampfquote wurde zum Ligabestwert, sondern auch bei den Abgefangenen Bällen konnte man sich von einem 5-Spiele-Durchschnitt von 5-6 auf 11-13 verbessern. Und zugleich gab es auch mehr geklärte Bälle, was auf zweierlei Dinge hinweist.

  1. Ein größerer Wille für einen Befreiungsschlag, anstatt den Ball risikoreicher aus der Gefahrenzone zu spielen.
  2. Eine tiefere Positionierung gegen den Ball, denn Ballklärungen finden meistens im eigenen Drittel statt.

Walter am Ball
Nun ist die Positionierung gegen den Ball aber auch eine Konsequenz der Positionierung und Spielweise am Ball. Was uns dazu führt wie sich das eigene Spiel diesbezüglich entwickelt hat. Und dabei fällt besonders eins auf. Die Präzision und allgemeine Umsetzung von Aktionen am Ball wurden schlechter. Nun ist der HSV eine Mannschaft die im Ligavergleich überdurchschnittlich viele Offensivaktionen im 1-zu-1 löst. Oder anders gesagt, die Hamburger Dribbeln gerne.

Jedoch ist die durchschnittliche Anzahl der versuchten Dribblings pro Spiel zwischen dem 9. und 16. Spieltag fast um die Hälfte von 29 auf 15 gesunken. Zwar hätte man hoffen können, dass dies die Konsequenz einer besonneneren Entscheidungsfindung war und somit vielleicht die Erfolgsquote gestiegen ist, aber das Gegenteil ist der Fall. Weniger versuchte Dribblings führten auch zu einem geringen Anteil von erfolgreichen Dribblings. Während der 5-Spiele-Durchschnitt in der Hinrunde lange und konstant über 52% lang, viel dieser Wert ab dem 13. Spieltag immer weiter ab und pendelte sich nach einem Niedrigpunkt von 37% bei etwas über 40% ein.

Ähnlich ist anzumerken, dass im gleichen Zeitraum die durchschnittliche Anzahl der fehlgeschlagenen Versuche einen Ball zu kontrollieren ebenso anstieg. Zugleich verbesserte sich zwar die Passquote bei mittellangen und langen Bällen vorübergehend, aber seit der Rückrunde ist der durchschnittliche Anteil von erfolgreichen Kurzpässen niedriger gesunken als er jemals diese Saison war. Man könnte also davon sprechen, dass die Hamburger Spieler an dem Mut, der Fähigkeit und der Präzision im eigenen Spiel am Ball nachgelassen haben. Und das Ganze passierte zur gleichen Zeit zu der man im Spiel gegen den Ball eigentlich eine Verbesserung aufweisen konnte.

Fazit bis jetzt
Grundsätzlich war dieser Versuch, die Negativentwicklung der eigenen Mannschaft umzudrehen absolut legitim. Denn, wie viele wissen werden, hatte der HSV in der Hinrunde häufig ein ähnliches Problem in seinem Spiel. Die Gegner haben sich auf die vergleichsweise dominante Spielweise der Hamburger angepasst und sich gerne abwartend tief in die eigene Hälfte gestellt oder zumindest ein kompakt stehendes 433 aufgezogen, dass zentrale Räume für den HSV im Aufbau schwer bespielbar machte. In solchen Situationen kann der Instinkt vieler sein, dass man mehr von dem tun sollte, was man ohnehin schon tut. Das heißt eine technische Lösung finden, um sich am Gegner vorbeizuspielen. Nun hatte der HSV aber das vorhin erwähnte Problem der fehlenden zentralen Kompaktheit und somit führt ein aggressives Offensivspiel mit den dazugehörenden Ballverlusten, zu großer defensiven Instabilität. Anders gesagt, wer aggressiv angreift, um kompakte Gegner zu durchspielen, nach Ballverlusten aber zu wenig Zugriff auf die Gegenspieler kriegt, der wird instabil. Und gerade solche Situationen, die dann zu Gegentoren führen, haben einen signifikanten Einfluss auf das weitere Spiel. Denn der Spielstand und andere einflussreiche Ereignisse, bestimmen häufig wie die Mannschaften weiterspielen. Und somit entschied man sich dafür den Walterball immer weiter zu entwaltern, was jedoch die Konsequenz hatte, dass die eigene Sicherheit und Präzision verloren ging.

Baumgart gegen den Ball

Nun stellt sich die Frage, was das für den neuen Trainer Baumgart, bedeutet. Welche Spielidee verfolgt er und wie passt sie in die hier beschriebene Entwicklung rein? Genaueres dazu wird euch Rob noch erklären. Aber im Bezug auf die hier beschriebenen statistischen Entwicklungen, ist es sinnvoll einen Vergleich zwischen dem Walterball der Hinrunde und dem Baumgart-Fußball der letzten Jahre zu ziehen. Am realistischsten sollte dabei der Vergleich mit Paderborn in seiner Aufstiegssaison in der 2. Bundesliga sein. Und es lassen sich durchaus einige Parallelen erkennen. Gegen den Ball steht Baumgart besonders für eins, ein hohes Angriffspressing. Dadurch hatte Padernborn in der Saison 18/19 die ligaweit höchste Pressingintensität aufzuweisen. Ein Unterschied ist der Anteil von Zweikämpfen im offensiven und mittleren Drittel. Dass letzterer Wert beim HSV in der Hinrunde durchschnittlich sehr gering ausgefallen ist, hat, wie bereits erklärt, viel mit dem Mittelfeldpersonal zu tun, aber nicht ausschließlich. Und somit ist es nicht ganz überraschend, dass man in den letzten Tagen lesen durfte, wie Baumgart daran arbeitet, Meffert dahin zu entwickeln, dass er sich weniger aus dem Zentrum rausziehen lässt. Womöglich hat diese Verhaltensweise von Meffert auch etwas damit zu tun, dass die Umstände um ihn herum zuletzt häufig nicht ideal waren, wodurch sich auch negative Gewohnheiten einschleichen können. Trotzdem wird auch Baumgart sich überlegen müssen, wie er ein aggressives Angriffspressing in den hinteren Reihen absichert. Und tatsächlich war auch Paderborn in seiner Aufstiegssaison keine defensiv stabile Mannschaft. Im Gegenteil, statistisch betrachtet ist das im Vergleich zum HSV der Hinrunde fast identisch. Der größte Unterschied ist dabei wohl die bessere Zweikampfquote von Paderborn. Somit wird es Baumgart wohl auch zugutekommen, dass Ludovit Reis nun wieder zurück im Kader ist, der trotz oder gerade wegen seiner schlechten Leistung gegen Hansa Rostock, hoffentlich bald wieder auf seinem besten Niveau spielen wird.

Baumgart am Ball
Und auch im Spiel am Ball ähnelt sich Paderborn aus der Saison 18/19 dem HSV der Hinrunde 23/24 in vielerlei Hinsicht. Eine Sache die sich stark unterscheidet ist die Ballsicherheit.

Während Paderborn darin die schlechteste Mannschaft der Liga war, ist der HSV diese Saison eher durchschnittlich unterwegs. Inwieweit diese Unsicherheit am Ball bei Paderborn ausschlaggebend für die vielen gegnerischen Torchancen war, kann ich hier nicht beantworten. Aber es ist durchaus vorstellbar, dass der HSV mit technisch versierteren Spielern die nun hoffentlich ihren Mut zurückgewinnen, unter Baumgart weniger anfällig sein werden als es Paderborn war. Und da diese Unsicherheit am Ball besonders bei Ballführungen stattfand, worin die Hamburger Experten sind, gibt es Grund zur Hoffnung. Es passt somit gut zusammen, dass Ballführungen bei beiden Mannschaften einen großen Anteil im progressiven Spiel hatten und in Dribblings gehen sie ebenso beide sehr gerne. Auch sollte Baumgart der Mannschaft dabei helfen können in letzterem wieder effektiver zu werden. Ein Aspekt, der manche vielleicht überraschen wird, ist, dass Paderborn in seiner Aufstiegssaison nur sehr wenige Flanken in den Strafraum gespielt hat.

Fazit für den Saisonendspurt
Baumgart scheint sowas wie die Lösung zu der ursprünglichen Lösung zu sein. Denn all das was in der Hin- und Rückrunde an Entwalterung stattgefunden hat, sollte in den Grundprinzipien der Baumgartschen Spielidee wieder priorisiert werden. Zumindest deuten Paderborns Werte aus seiner Aufstiegssaison in der 2. Bundesliga darauf hin, dass Grundprinzipien des aggressiven Anlaufens, sowie vieler Ballführungen und Dribblings wieder mehr in den Fokus kommen werden. Ausschlaggebend wird wohl letztlich sein, wie schnell er der Mannschaft die Verunsicherung nehmen kann, damit seine risikoreiche Spielidee am und gegen den Ball fruchten kann. Wenn ihm dies schnell gelingt, könnten er und sein Ansatz gerade unter dem Umstand eines Saisonendspurts von 12 Spielen die richtige Lösung sein.

Benedikt
Benedikt
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