Samstag, 20:30 Uhr, Flutlicht, Volksparkstadion. Es sind Finalwochen in Hamburg, die Crunch Time der Saison beginnt. Und sie beginnt gegen einen Gegner der mit Blick auf Statistiken, Trends und Historie wohl immer wieder gerne gegen den HSV spielt. Holstein Kiel verlor nur eins seiner 11 Spiele im Unterhaus gegen den HSV (2:3 am 9.9.22) und man schaffte es zudem regelmäßig, dass sich selbst die Remis gegen die Kieler anfühlen wie Niederlagen. Sei es der Last-Minute Ausgleich am (erneuten) 30. Spieltag in der Saison 19/20 oder gar letzte Saison als Robin Himmelmann beim 0:0 zur Höchstform auflief. Sieht man nur die verlorenen Punkte in diesen 2 Spielen, dann hat der HSV in einem Heimspiel gegen Holstein Kiel die Relegation und sogar einen direkten Aufstieg verspielt.
Auch der Trend spricht aktuell für die KSV Holstein. Die letzten 5 Spiele nicht nur gewonnen, sogar zu 0 gewonnen. Man ist zudem das beste Auswärtsteam der Liga. Nur 2 Niederlagen bei 14 Spielen stehen hier zu Buche, das ist mehr als beachtlich.
Holstein Kiel steht nach ihrem Umbruch im Sommer aber nicht zufällig dort oben. Das Team von Trainer Marcel Rapp zeigt auch in den Statistiken eindeutig die Grundlage ihres Erfolgs: Defensivstärke, Umschaltspiel, Standardstärke.
Die 5 Spiele ohne Gegentore sprechen hier schon ihre eigene Sprache. Es gibt Teams in dieser Liga die in der gesamten Saison nicht auf diesen Wert kommen. 3,51 expected Goals Against oder ca. 0,7 xGA pro Spiel belegen, dass dieser Run der Kieler kein Zufall ist. Vor allem wenn man noch hinzufügt, dass die Kieler in 4 dieser 5 Spiele mit einer Pausenführung in die Halbzeit gegangen sind.
Eine weitere Stärke der Kieler sind die Standards. 15 ihrer 59 Toren erzielten sie per Standards. Das ist mehr als ein Viertel. Auch sind die Kieler Standards oft ein Dosenöffner für ihr Spiel. Vier mal erzielte man das 1:0 durch einen Standard, ganze 7 mal war eine Standardsituation hervorgehend für das erste Tor der Kieler in einem Spiel. Am Ende stehen durchschnittlich 0,57 xG pro Spiel per Standardsituationen. Ligabestwert.
Auch personell kann Kiel ziemlich aus dem Vollen schöpfen. Aus Rapps Stammelf fehlt wohl nur U21 Nationalspieler Colin Kleine-Bekel, der sich in der letzten Länderspielpause einen Kreuzbandriss zuzog.
Die Torwartposition und die Defensive scheint gesetzt zu sein. Weiner ist unangefochten die Nummer 1 und auch Becker, Erras und Komenda scheinen gesetzt zu sein. Allerdings bekam der Serbe Ivevic in den letzten Wochen durchaus seine Chance, so auch letzte Woche, wo Marco Komenda kurzfristig passen musste. So könnte er für Komenda ins Spiel kommen oder die RIV Position von Becker besetzen, da dieser auch den rechten Wingback geben kann.
Die personelle Alternative auf rechts wäre der ex-HSVer Finn Porath. Links ist BVB-Leihgabe Rothe gesetzt. Auch die Zentrale gilt als gesetzt. Holtby und Sander sind ein sich gut ergänzendes Duo. Auf der 10 erwarte ich den Kieler Toptorschützen Skrzybski, davor werden es höchstwahrscheinlich Machino und Arp oder Bernhardsson.
Kiels Spielstil liegt vor allem auf Risikovermeidung im eigenen Spiel und Fehler provozieren gegen den Ball. Somit ist es nicht weiter überraschend, dass sie einen vergleichsweise geringen Anteil ihrer Schüsse selbst vorlegen.
Mit Ball ist das Spiel der Kieler wahnsinnig fluide und setzt ganz und gar nicht auf ein klassisches Positionsspiel der Spieler. Viel mehr ist das Spiel der Kieler ein tolles Beispiel, wie man positionsunabhängig Räume bespielen und besetzen kann. Die Variabilität, speziell des Mittelfeldes, ist sehr hoch. Wirklich strikt positionstreu spielen eigentlich nur die 3 Innenverteidiger (wo auch hier Becker oft zum RV wird) und der linke Flügelverteidiger Rothe.
Strukturell ergibt das situativ natürlich die verschiedensten Varianten im Kieler Spiel. Schauen wir uns also lieber die Rollen der einzelnen Akteure an um das Kiel Spiel besser zu verstehen. Am ehesten ist es dennoch ein 2-3-2-3. Becker schiebt oft kohärent zu Poraths Bewegung auf die rechte Außenbahn vor. Der nominelle Flügelverteidiger Porath schiebt dann nicht eine Linie vor, was man normalerweise von einem Wingback erwartet, sondern agiert eher situativ als eingeschobene zentrale Option auf der rechten Seite. Trotzdem kann auch er linear die Seite bespielen und bedribbeln.
Auf der anderen Seite schiebt Rothe permanent auf die linke Schiene raus und Ivevic hält sich dahinter in klassischer LIV Manier in einer 5er Kette. Vor der Abwehr ist Sander der tiefere Part im zentralen Mittelfeld. Er agiert als Rhytmusgeber und ist auch sonst absoluter Schlüsselspieler in Kiels Aufbau. Holtby agiert daneben äußerst variabel und ziemlich intelligent. Er hat viele Freiheiten und roamt entweder in der Linie zwischen Sander und Gegner, kippt in die Breite herab oder bietet sich als erste diagonale Option bei einer Eröffnung über Rothe an.
In letzter Linie agiert wahrscheinlich das fluideste Duo der Liga mit Skrzybski und Machino. Die Raumbesetzung dieser beiden im Spiel zueinander ist absolut beeindruckend und erstligareif. Die Entscheidungsfindung um den anderen herum ist wirklich herausragend, sodass sich im Kieler Spiel immer eine solide Option für den Anderen generieren lässt. Ich kann aber nur nochmal wiederholen, dass diese Fluidität eine Stärke im gesamten Kiel-Spiel ist. Kippt z.B ein Holtby ab, sind sofort Machino oder Skrzybski da um die Lücke in der Zentrale zu füllen.
Kiel möchte zudem am liebsten flach von hinten herausspielen, aber nicht zu jedem Preis. Erste gewünschte progressive Option ist meinst ein Diagonalball ins Zentrum. Sei es eine diagonale Eröffnung und folgende Verlagerung über Sander oder die diagonale Öffnung über Rothe in den Halbraum.
Ergibt sich diese Option allerdings nicht, dann wählt vor allem Rothe oft die lange Option in die Tiefe in Richtung Machino.
Die Vernetzung im letzten Drittel bringt dann letztendlich die Gefahr auf den Platz. Speziell das Nachrückverhalten der zweiten Kieler Linie und der Schiene ist außerordentlich gut. Das zeigt sich vor allem in der Box. Unabhängig der Position machen die Kieler in ihrer Boxbesetzung oft vieles richtig in ihren Strukturen und Abläufen. Es wird permanent der erste Pfosten attackiert, Skrzybski schiebt in den meisten Fällen intelligent von der Strafraumkante kommend nach und auch die ballfernen Schienenspieler leisten am zweiten Pfosten oft ihren Beitrag. Dass im Rückraum noch ein Wahnsinns-Distanzschütze mit Sander wartet, macht es für den Gegner nicht besser.
Was die Kieler allerdings erst so richtig stark macht, ist ihre Arbeit gegen den Ball. Nicht ohne Grund wartet Weiner seit über 5 Spielen mal wieder auf einen Gegentreffer.
Strukturell agiert man aus einer 5-2-Skrzybski-2 heraus. Das kombinieren sie mit sehr mutig und gut springenden Flügelverteidigern, einer Pressingfalle im Zentrum und absolut intensivem ballnahen Überladen gegen den Ball.
Der Fokus dieses 2-3 oder 3-2er Block im Zentrum ist auch das gegnerische Zentrum. Die gegnerische Breite wird konsequent mit den springenden Rothe und Porath bearbeitet und angelaufen.
Man versucht hier aber trotzdem das Spiel des Gegners in das Zentrum zu lenken und hier eiskalt mit hohen Ballgewinnen zuzuschlagen. So hat Skrzybskis Durchhieben und hohes Anlaufen wahrscheinlich nicht die Intention, dass die KSV Holstein den Ball in der ersten Linie gewinnen will, sondern viel mehr dahinter. Schiebt Skrzybski durch, attackieren Holtby und Sander dahinter sofort den frei werdenden 6er oder 8er und setzen diesen unter Druck. Durch die gute Staffelung der letzten Drei bieten sich direkt die Schnittstellen an zum schnellen Umschalten nach Ballverlust. In diesem Aspekt ihres Spiels scheinen die Kieler sich seit der Hinrunde auch nochmal verbessert zu haben. Ihre durchschnittliche Pressingintensität ist mit 9,81 PPDA leicht höher und der Anteil ihrer Zweikämpfe im offensiven Drittel ist von 8,73% auf 14,25% gestiegen. Und somit haben sie schon 4 Tore geschossen denen in den letzten 2 Aktionen von dem Abschluss ein Zweikampf oder abgefangener Ball vorausging. Das der ligaweit beste Wert. 2 davon gab es alleine in den letzten 2 Spielen und einen im Hinspiel gegen den HSV.
Generell ist ihr zentrales Umschaltspiel nach Ballverlusten wohl die größte offensive Stärke, die der Tabellenführer besitzt. Speziell Sander ist hier als Taktgeber absolut hervorzuheben.
Zugriff generieren die Störche aber eben auch über ihre brutale Intensität. Bei Kiel arbeiten wirklich 10 Feldspieler effektiv gegen den Ball, gruppentaktisch ist das mit das Höchste, was das die Liga zu bieten hat. Schiebt der Gegner mal in die Breite heraus, wird er mit ordentlich Personal in Richtung Seitenlinie gedrückt. Kiels intensives Durchschieben ist hier der Schlüssel zum Erfolg in diesen Situationen. Man tut es aggressiv und sehr diszipliniert. Die drei Offensiven befinden sich hier situativ alle in der Halb- oder Schienenspur wieder. Abgerundet wird dies durch ein sehr schlaues Nach- und Herausrücken der Doppel-6. Speziell Ex-HSVer Holtby fällt hier immer wieder positiv auf in seinem Timing gegen den Ball.
Gepaart mit dieser brutalen Standardstärke (ich zähle die Machino Einwürfe hier als Standards dazu), macht Kiel wahrscheinlich zum aktuell besten Team der Liga. Es wird eine ganz schön große Aufgabe für den HSV am kommenden Samstagabend. Aber was spricht vielleicht auch für den HSV?
Es sind vielleicht zwei Dinge, die du gegen Holstein Kiel gut machen musst um zu punkten: Im Anlaufen die Kieler zu langen Bällen zwingen und ihr Überladungsdurchschieben zu eigenen Gunsten nutzen.
Kriegt man Druck in den Kieler Aufbau, könnte man gerade ihr Spiel über das Zentrum wahrscheinlich nachhaltig beinträchtigen. Aber es bleibt immer die Gefahr, dass dieses Hin- und Herkippen von Skrzybski, Holtby und Machino zu jeder Zeit bestraft werden kann.
Es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass sich Holstein Kiel auch gegen den HSV primär aufs Verteidigen und Umschalten fokussieren wird. Aber wie bespielt man dieses intensive Spiel von Holstein Kiel? Eine Variante wäre mit Mut genau in diesen Druck hineinzuspielen und dann schnell aus diesem Druck in die Verlagerung zu kommen.
Aber ob das reicht? Es wird eine richtig harte Nuss werden. Der HSV darf sich keine Fehler erlauben, Kiel ist viel zu gut darin diese zu bestrafen. Auch ist der Blick auf die bisherigen Kieler Niederlagen nicht unbedingt ein Lichtblick für den HSV. Gegen Fürth hatte man viele Möglichkeiten das Spiel zu seinen Gunsten zu drehen, gegen Hertha war viel Pech dabei und gegen Pauli hätte man ebenso früh hoch in Führung gehen können.
Der Trend, die Statistik und auch das Momentum auf dem Platz spricht wohl am Wochenende mehr für Kiel als für den HSV, aber irgendwann ist jede Serie fällig. Und in der Stadt Hamburg haben die Kieler diese Saison ja schon einmal verloren…
Erstmal super Beitrag wie immer. Aber wenn man die Analyse so liest, können wir als HSV froh sein, wenn man am Ende vllt 1 Punkt mitnehmen oder keine hohe Niederlage zu kassiert. Denn alles Statistik (noch nie gegen KSV zu Hause gewonnen) und Form (1. mit 5 Siege ohne Gegentor in Folge) spricht gegen HSV. Also nur noch hoffen, dass DD Punkte gegen Fürth diese Woche und nächste Woche gegen S04 Punkte liegenlässt… Das sieht nicht gut aus
Beeindruckende Analyse. Ich lese sie erst jetzt nach dem Spiel. Da wirkt sie für mich wie eine Prophezeiung…
Auffällig war für mich dann auch noch die körperliche Robustheit und die Dynamik der Kieler. Dieses sollte für uns eine Richtschnur für die Neuverpflichtungen der neuen Saison sein.