Es ist etwas, das auch in den ersten Momenten des Re-Lives noch extrem weh tut. Das Foul von Ryan Porteous an Ilkay Gündogan ist nichts weniger als eine dunkelrote Karte. Ich finde es immer noch erstaunlich, dass Gündogan nach diesem Foul tatsächlich durchspielen konnte. Genauso stabil wie seine Knochen war sein Auftritt. Nach der ganzen Kritik tut es ihm wohl mehr als gut, dass er seine Mitspieler ‘besser machen konnte’, wie er es im Interview nach dem fulminanten 5:1 gegen die Schotten beschrieb.
Die Deutschen waren in ihrem EM-Auftakt spektakulär. In jedem Aspekt, den dieser Sport zu bieten hat – Matchplan, Ausführung, Effizienz. Es war alles da, was es brauchte, um das Land endgültig mit dem EM-Fieber zu infizieren.
Die deutsche Elf agierte im Eröffnungsspiel so, wie man es erwarten konnte. Ob Gündogan als weiterer Halb-Zehner in der Zentrale spielte, war wohl noch das größte Fragezeichen.
Die Schotten veränderten nur Kleinigkeiten in ihrem präferierten 5-2-2-1. Che Adams kam für Shankland in die Mannschaft und Gilmour musste für McGregor weichen.
Deutschland agierte auch strukturell etwa so, wie man es erwarten konnte. Toni Kroos kippte wieder in die erste Aufbaulinie heraus, Mittelstädt und Kimmich hielten die Breite und Andrich war als Anker vor der deutschen Aufbaukette. In offensiven Teil war ebenfalls wieder ordentlich Bewegung drin. Es herrschten viele Rotationen. Bei Wirtz und Musiala waren die vor allem horizontaler Natur, zwischen Havertz und Gündogan war es vertikaler.
Schottland agierte strukturell zwar auch aus dem bekannten 5-4-1 Block heraus, allerdings standen sie viel höher, als man es erwarten durfte. Adams befand sich meistens auf Höhe der Mittellinie. Das Trio aus Adams, McGinn und Christie lief dann situativ die erste deutsche Aufbaulinie an, allerdings ohne wirklich aggressiv zu sein und Druck auf die deutschen aufbauen zu können.
Diese Zeit sollte man vor allem einem Toni Kroos nicht geben. Die Deutschen nutzten neben der Passstärke von Toni Kroos auch die Räume, die sie durch das Binden von Verteidigern permanent herstellen konnten. Ließ sich zum Beispiel ein McTominay durch eine tiefere Position von Gündogan aus der Vierer-Mittelfeldkette herausziehen, entstand zwangsläufig im Rücken von McGinn ein riesiges Loch, über das man diese Situationen bequem auflösen konnte.
Aber speziell McTominay ließ sich selten auf simple Mannorientierungen ein. Dies war mehr der Job von McGregor, der sich oft an Andrich orientierte. Bei den Schotten blieb es zwar bei einem 5-4-1, allerdings mit einem sehr stark ausgeprägten räumlichen Ansatz. Das Ziel des deutschen Teams war es nun, diese beiden schottischen Ketten so weit wie möglich auseinanderzuziehen und im Zwischenraum den freien Spieler zu finden.
Ein Mittel, mit dem das immer gelingen konnte, waren Tiefenläufe der Zehner und von Havertz. Die Positionierung von Wirtz und Havertz in dieser Situation ist ebenso von elementarer Wichtigkeit. Sie attackieren hier die Spuren zwischen den Verteidigern und ziehen somit Ralston, Porteous und Hendry leicht mit in die Tiefe. Die Position Musialas band ebenso Tierney und Robertson.
Der Raum für den horizontal hineinstartenden Gündogan ist fast schon riesig, um aus dieser Aktion aufziehen zu können. Das Binden von Gegenspielern und Tiefenläufe, um Räume zu schaffen, sollten die Schlüssel für den Auftakt dieser Europameisterschaft sein.
Es ist also kein Zufall, dass das erste deutsche Turniertor mit allen beschriebenen Faktoren zusammenhängt. Die Schotten sind nach einem Befreiungsschlag wieder eher passiv in ihrem Anlaufen. Adams schiebt zu Tah, McGinn ist sogar etwas breiter positioniert als normal und McTominay bewacht Kroos, aber ohne wirklich anzugreifen.
Auf der ballfernen Schiene ist durch das Einrücken Musialas kein Andrew Robertson, der den Raum verteidigt. Kroos rutscht sogar noch weg, liefert aber trotzdem eine perfekte Verlagerung auf Kimmich.
In der Folge muss Robertson auf Kimmich rausschieben. Musiala attackiert sofort den tiefen Halbraum, wodurch Tierney immer weiter aus der Kette gezogen wird. Zwischen Tierney und Hendry entsteht nun das nächste horizontale Loch in der schottischen Kette, was Ilkay Gündogan sofort erkennt. Auch er setzt zum Tiefenlauf an und zieht so den Achter McGregor aus dem Raum vor der schottischen Box. Die gesamte schottische Restverteidigung ist nun in der Box in Aktion. Der Rückraum für Wirtz ist komplett frei, was Kimmich erkennt, um dann das erste deutsche Tor vorzubereiten.
Die gleichen Prinzipien führen auch beim 2:0 zum Erfolg. Die Schotten stehen wieder in ihrem 5-4-1 vor Toni Kroos. Musiala, dieses Mal im linken Halbraum, steht zunächst etwas tiefer, was Porteous etwas aus der Kette vorschieben lässt. Das ist ein gängiges Mittel Schottlands, um im Zwischenraum mit vorwärtsverteidigenden Innenverteidigern aufzufüllen. Im Rücken von Porteous entstehen nun natürlich Räume, die man theoretisch bespielen kann. Wenig Druck auf den Ballführenden und eine hohe Kette sind sowieso nicht unbedingt die beste Kombination für eine kompakte Defensive.
Havertz attackiert nun diesen Raum mit einem diagonalen Lauf in die Tiefe und zieht so wieder etwas Raum für die drei Zehner auf. Der Raum ist zwar nicht groß, aber groß genug, dass Ilkay Gündogan leicht vorschiebt und dann mit einer genialen Bewegung die Dynamik mitbringt. Wirtz und Musiala attackieren daraufhin die Tiefe und drücken den schottischen Block weiter in die eigene Hälfte.
Gündogans Steckpass auf Havertz ist dann einfach nur absolute Weltklasse. Überhaupt Havertz in dieser Situation anzuspielen, zeigt seine Klasse, und auch das Timing ist überragend, da Havertz Sekunden vorher noch im Abseits steht. Spätestens nach dieser Aktion hat er vielen seiner Kritiker gezeigt, welchen Unterschied er in der deutschen Elf machen kann.
Der Matchplan von Julian Nagelsmann war letztendlich genial und wurde zudem perfekt von seinen Spielern ausgeführt. Natürlich haben sich die Schotten mit ihrem halbgaren Pressing auch keinen Gefallen getan, aber trotzdem muss man am Ende des Tages diese Räume, die der Gegner dir gibt, auch erst einmal bestrafen. Das haben die Deutschen mit hervorragend vorbereiteten Aktionen getan. Sicher kann man in manchen Szenen noch konsequenter sein, aber im Großen und Ganzen kann Nagelsmann mit seiner Mannschaft sehr zufrieden sein.