1. Sportliche Situation – wo steht der HSV?
Spiel mit Ball
Unter Steffen Baumgart ist eines gesetzt: die Dreierkette im Spielaufbau. Während davor variabel agiert wird, bleibt die Dreierkette unantastbar. Die Variationen im Mittelfeld sind vielfältig: ein Sechser, zwei Sechser, Mittelfeld-Raute oder Mittelfeld-Box. Ebenso festgelegt sind die zwei Breitengeber – in der Regel ein offensiver Außenbahnspieler und ein Schienenspieler. Im Angriff gibt es ebenfalls Flexibilität: von einer alleinigen Sturmspitze bis hin zu einer Doppelspitze.
Der HSV hat eine Phase höchster Flexibilität erreicht – ein Zustand, der bei den Fans gut ankommen sollte, da der Hauptkritikpunkt am Vorgänger Tim Walter die vermeintlich fehlende Flexibilität war.
Spielerisch legt der HSV unter Baumgart viel Wert auf Dynamik, selbst im Spielaufbau. Schön vorgetragene Rondo-Ekstasen interessieren Baumgart wenig. Vielmehr sollen die Rothosen den Ball zielgerichtet nach vorne tragen – auch auf die Gefahr hin, schnelle Ballverluste zu riskieren. Dies steht im Kontrast zum Ansatz von Tim Walter, der den Ball so sicher wie möglich in den eigenen Reihen halten wollte. Lange Bälle waren unter Walter verpönt, um einerseits das eigene Spiel weiterzuentwickeln und andererseits Ballbesitzphasen des Gegners zu verhindern.
Wie versucht der HSV diese Dynamik zu entwickeln?
Im Spielaufbau sollen möglichst viele Spieler frühzeitig in die gegnerische Hälfte, am besten nahe ans letzte Drittel, vorrücken. Mit den beiden Breitengebern und der Doppelspitze hat man potenziell vier Spieler, die an der letzten Linie der Gegner binden und dadurch Räume für die rotierenden zentralen Spieler schaffen.
Grundsätzlich setzt der HSV im eigenen 3-2-Aufbau auf ein Überladen des Zentrums. Elfadli und Meffert agieren als Anspielstationen in der Zentrale zunächst recht statisch, um bei mannorientiertem Gegner Passwege auf die Außenbahnen zu öffnen. Bewegen sich die Sechser horizontal nach außen, schaffen sie wiederum Räume für nachrückende Außenverteidiger wie Muheim oder Katterbach.
Spielprinzip: Locken und Verlagern
Der eigene Aufbau ist zu Beginn zurückhaltend, gewinnt aber nach der Überwindung erster Pressingwellen an Tempo. Man versucht, den Gegner bewusst ins Pressing zu locken, um dann mit schnellen Verlagerungen die geschaffenen Räume zu nutzen.
Das Spielprinzip „Locken und Verlagern“ wird vom Bayerischen Fußballverband so erklärt:
Grundvoraussetzung, um das Prinzip „Locken und Verlagern“ erfolgreich spielen zu können, ist die Struktur bzw. Positionierung im eigenen Ballbesitz. Die Spielerinnen müssen sich auf eine Spielfeldseite fokussieren und diese möglichst überladen. Auf der ballfernen Seite sorgt lediglich ein Spieler bzw. eine Spielerin für die Breite. Dieser starke Fokus auf eine Seite führt dazu, dass der gegnerische Defensivverbund diesen Raum verdichtet und seine Aufmerksamkeit darauf richtet. Doch die Positionierung alleine reicht nicht zwingend aus, um die Verteidigerinnen in den entsprechenden Raum zu locken. Durch viele Kurzpässe wird der Verbund vollends in Ballnähe gelockt. So ist der ballferne Raum nicht nur personell unterbesetzt, sondern auch gedanklich außen vor. Dieser vermeintlich „isolierte“ Spielerin gilt es, ins Spiel zu bringen.
https://www.bfv.de/bildung-und-foerderung/ausbildung-und-schulungen/bfv-coaching-zone/taktik/locken-und-verlagern
Auf den HSV übertragen, ist Jean-Luc Dompé oft jener isolierte Spieler auf der ballfernen Seite. Mit technisch soliden Spielern wie Hadzikadunic, Hefti, Meffert oder Elfadli verfügt der HSV zwar nicht über außergewöhnlich progressive Passspieler, aber über Akteure, die in der Theorie Sicherheit und technische Präzision bieten – betont sei hier: in der Theorie.
Schaffen es die Spieler mit ihrer Beständigkeit sich durch die erste Pressingwelle zu manövrieren wäre genügend Platz da, um Spieler wie Karabec im Halbraum oder eben Dompé auf außen zu finden.
Probleme im Aufbau
Der HSV spielt die meisten Kurzpässe der Liga, schlägt aber die wenigsten langen Bälle. Dies verdeutlicht die Passsicherheit (beste Passquote der Liga), aber auch den Mangel an Risiko und Überraschungsmomenten. In der Kategorie der progressiven Pässe belegt der HSV nur Platz 10, und auch bei den Seitenwechseln ist man drittletzter. Das deutet darauf hin, dass der Aufbau noch von Walters Ansatz geprägt ist. Ein direkterer Ansatz wird bisher zu selten umgesetzt.
Spielprinzip: Spiel über den Dritten
Ein weiteres Spielprinzip, das unter Baumgart eingeführt wurde, ist das sogenannte „Spiel über den Dritten“, das den Gegner aus seinen Positionen locken soll. Besonders deutlich war dieses Prinzip im Spiel gegen Paderborn zu sehen, als Davie Selke häufig als Wandspieler agierte, um den Ball klatschen zu lassen und die dahinter entstehenden Räume zu nutzen.
Die DFB-Akademie erklärt dieses Spielprinzip wie folgt:
Verstellen die Verteidiger den Passweg zu einem Angreifer, kann dieser dennoch über einen „Umweg“ angespielt werden. Ein dritter Angreifer löst sich dafür, dient als Wandspieler und lässt das Zuspiel zum sich mit dem Pass lösenden Spieler klatschen.
https://www.dfb-akademie.de/das-spiel-ueber-den-dritten/-/id-11008981/
Der Mechanismus dahinter: Mit dem ersten Zuspiel schiebt die gegnerische Defensive zum Ball und setzt den Passempfänger bereits bei der Annahme unter Druck. Dadurch öffnen sich anderswo Räume, in die er auf einen dritten Spieler klatschen lassen kann. Dieser hat dann neben ausreichend Raum und Zeit auch die Möglichkeit auf eine schnelle Spielfortsetzung, da er das Zuspiel mit Blick zum gegnerischen Tor erhält. Für den Erfolg der Ausführung sind die passenden Positionierungen der Spieler, die Passwinkel, die Körperstellungen und ein präzises Passspiel essenziell.
Klappt der eigene Spielaufbau über den Boden nicht wird auch gerne der „halblange“ Ball auf den eigenen 10er-Raum gesucht in den sich häufig einer der 2 Mittelstürmer fallen lässt, um je nach Situation zu verlängern oder den Ball festzumachen. Diese Variante wird auch gerne genutzt, wenn sich die zentralen Mittelfeldspieler in die Halbräume bewegen um dort den hohen Ball zu verarbeiten.
Im letzten Drittel verlässt sich der HSV stark auf individuelle Qualität und Strafraumbesetzung. Der unter Baumgart bekannte Flankenfokus spielt bisher jedoch keine große Rolle. Dies liegt auch daran, dass der HSV vergleichsweise selten ins gegnerische letzte Drittel gelangt.
Gegen den Ball
Nicht die Mannschaft mit den meisten Toren steigt auf, sondern die mit den wenigsten Gegentoren.
Steffen Baumgart vor dem Spiel gegen Eintracht Braunschweig
Diesen Ansatz verfolgt der HSV konsequent. Mit einer flexiblen Fünferkette (5-4-1, 5-2-3, 5-3-2) versucht man, defensiv kompakt zu agieren. Damit einhergehend ein häufig nicht all zu aggressives Angriffspressing, sondern ein Mittelfeldpressing, das mit vielen Mann im Zentrum ständige Überzahl gegen das gegnerische Spiel heraufbeschwören soll.
Gespielt wird häufig in einem flachen 5-4-1, das beim Herausrücken der beiden Außenbahnspieler zu einem 5-2-3 mit 2 6ern wird. Durch horizontale sowie vertikale Kompaktheit gelang es dem HSV häufig die Gegner auf die außen sowie zu Versuchen des langen Balles in die Tiefe zu zwingen, was in der Ausführung zunächst ungefährlicher ist, als das flache Spiel durchs Zentrum.
Mit der Doppelspitze Selke-Glatzel hatte man dann die Entscheidung, ob einer der beiden im 5-4-1 in die zweite Reihe geht oder man ein 5-2-3 nimmt was allerdings bedeuten würde, dass Karabec Teil einer Doppel-6 würde. Diese Variante sah man durchaus auch schon über die Saison, teilweise auch mit Richter als 6er, wie beispielsweise gegen den 1. FC Magdeburg wo diese Variante sehr gut funktionierte. Gegen Fortuna Düsseldorf war es im Mid-/Low-Block ein flaches 5-3-2, auch hier zeigt sich der HSV immer wieder flexibel und zu Anpassungen an den Gegner bereit.
Was sind jetzt also die Grundsätze, des „Offense wins games, Defense wins Championships“-HSV?
- Kein Platz in den Schnittstellen zulassen
Der HSV probiert es dem Gegner so schwierig wie möglich im Spiel in die Tiefe zu machen. Wenn, darf der Gegner den Ball über die Kette wählen. Dieser ist vom Timing und seiner Ausführung allerdings deutlich schwieriger als der flache Steckpass, deswegen nimmt man dies gerne in Kauf als HSV.
Mit der Fünferkette sowie den 2-3 zentralen davor sollen sämtliche Optionen für den flachen Steckpass eliminiert werden.
- Überzahl in letzter Linie sowie in der Box
Durch drei zentrale Innenverteidiger im eigenen Defensivverbund soll jederzeit mindestens Gleichzahl gegen die gegnerische Offensive sichergestellt sein. Hierfür nimmt man potenzielle Unterzahlsituationen auf außen in Kauf. Um diese zu verhindern benötigt es sehr umtriebige Mittelfeldspieler, die dies ausgleichen sowie weitere Teamkollegen, die dann eben jene freigewordene Räume im Zentrum wieder zulaufen.
- Abschlüsse des Gegners sind erlaubt, aber bitte nichts Gefährliches
In den vergangenen Wochen konnte man Kommentatoren bei HSV-Spielen häufig dabei zuhören wie sie die selbstdiagnostizierte Defensivschwäche des HSV mit der Anzahl an gegnerischen Abschlüssen verbanden. Und es stimmt: Der HSV lässt die drittmeisten gegnerischen Abschlüsse zu, gefährlich sind die meisten Abschlüsse zu Beginn der Saison aber eher nicht gewesen.
Gegen Köln ließ man 28 Torschüsse zu, 17 davon aufs Tor. Nur 3 davon hatten einen xG-Wert über 0,1. Und auch bei der häufig als katastrophaler Einbruch benannten 2. Hälfte gegen Hertha BSC ließ man nur 9 Abschlüsse mit einem Gesamt-xG-Wert von 0,5 zu.
Der HSV-Ansatz lässt sich mit einem aus dem American Football entnommenen Leitspruch beschreiben: Bend don’t break. Du wirst nicht alles verhindern aber du kannst den Gegner an gefährlichen Räumen und Situation hindern. Die ungefährlicheren Situationen werden dem Gegner überlassen.
Und dieser Ansatz hatte durchaus Erfolg. Zumindest defensiv hatte man über einen längeren Zeitraum der bisherigen Saison das Gefühl, dass dort Fortschritte gemacht werden. Zuletzt brach man dort jedoch ein. Rund 4,8xG aus dem Spiel heraus ließ man gesamt in den letzten 3 Spielen zu. Macht 1,6 pro Spiel, viel zu viel bei der Betrachtung der eigentlichen Stärke der Gegner.
Rechnet man jedes Spiel mit rund 2 Gegentreffern muss die eigene Offensive umso besser funktionieren. Ein Umstand, der unter Tim Walter mal besser, mal schlechter funktionierte. Beim von Baumgart gewählten Grundsatz „Defense first“ wird es allerdings schwierig zu erklären wie dies zustande kommen kann, sollte doch der Grundstein des Erfolges eben jene Defensive sein.
Kernprobleme des eigenen Spiels
Woran hakt es im eigenen Spiel am auffälligsten? Jetzt wo das HSV-Spiel ein wenig heruntergebrochen wurde schauen wir uns 3 Probleme an, die normalerweise relativ schnell beseitigt werden könnten.
- Besetzung des eigenen 10er-Raums
Ein immer wiederkehrendes Problem im Spiel des HSV ist a) die Besetzung des 10er-Raums sowie b) individuell die Leistungen der dort eingesetzten Spieler.
Das Herauskippen der 10er des HSV ist ein regelmäßig auftretendes Spielelement des HSV. Die zunächst eher zentrumsorientierten Spieler lassen sich auf die äußeren Halbräume oder wirklich auf die Außenbahnen fallen. Vorteil: Der Gegner wird vor die Entscheidung gestellt ob er seinen Gegner laufen lässt, dann wird er anspielbar oder ihn verfolgt, dann öffnet er Räume in der eigenen Defensive. Prinzipiell also ein durchaus interessantes Element des HSV. Aber:
Man muss es so knallhart sagen: Keiner der dort eingesetzten Spieler bringt nur ansatzweise einen Mehrwert über 90 Minuten. Noch am ehesten Adam Karabec, der aber auch zu häufig von seinen kleinen Momenten lebt. Immerhin schon 3 Assists in gerade mal 607 Minuten sind ordentlich für den 21-Jährigen Tschechen. Abseits dessen agiert er viel zu häufig noch sehr verhalten, sehr risikoarm was aber auch nicht verwerflich ist für einen Spieler, der sich mit seiner Rolle in einer neuen Liga, einem neuen Verein und einem neuen Land natürlich noch vertraut machen muss.
Diese Eingewöhnungszeit kann man seinen Kontrahenten auf der zentral offensiven Position allerdings nicht mehr gewähren. Weder Marco Richter noch Immanuel Pherai kommen in ihrer momentanen Verfassung für eine Startelf-Nominierung in Frage.
Was fehlt aber ganz allgemein? Platt gesagt fehlt etwas ganz Offensichtliches: Die Spieler im richtigen Raum. Zu häufig befinden sich die 10er des HSV zu weit weg vom Spielgeschehen, wenn es ins letzte Drittel geht. Um dort überhaupt hinzukommen bräuchte es eine konsequentere Besetzung der zentralen Positionen zwischen den Linien, etwas was anscheinend bisher nicht vorgesehen oder von den Spielern sehr geflissenhaft ignoriert wurde.
Durch die häufig sehr flache Positionierung sowie teilweise fehlende Staffelung beider 10er fehlt dem HSV Tiefe im eigenen Spiel. Man beraubt sich seiner eigenen Möglichkeiten indem man im ersten Drittel zwar eine hohe Sicherheit besitzt (oder besaß), dann aber Probleme bekam ins Übergangsspiel zu gehen. Eine hohe Anspielbarkeit von Spielern wie Karabec und Richter wird am gegnerischen Strafraum, nicht aber an der Außenlinie auf Höhe der Mittellinie benötigt.
Dies muss Steffen Baumgart schnell in den Griff bekommen. Schafft es der HSV sein Spiel durchs Zentrum noch mehr zu forcieren wäre schon ein großer Teil der eigenen Offensiv-Problematik angegangen. Bisher ist man darauf angewiesen irgendwie über außen durchzukommen, was bei Dompé noch aussichtsreich ist, beim Rest der Außenbahnspieler aber kein zukunftsfähiges Konzept als Hauptmerkmal des eigenen Offensivspiels bietet.
- Absicherung vor der Fünferkette
Nominell ist man sehr gut aufgestellt, wenn es um das verteidigen des eigenen Zentrums geht. Allerdings kann man im bisherigen Saisonverlauf viel zu häufig erkennen, dass das Ver- und vor allem Nachschieben einzelner Spieler noch zu selten funktioniert. Schiebt ein 6er in die Breite, um zu unterstützen oder Druck auf den ballführenden Gegner zu machen geht der Raum vor der eigenen Abwehrreihe auf. Dieser Raum wird dann nicht konsequent nachbesetzt, sodass meist nur ein zentraler Mann übrig bleibt.
Unter Baumgart verteidigen je nach Besetzung die beiden 6er ein wenig diagonal versetzt voneinander. So entsteht aus dem flachen 5-4-1 auch schnell mal ein 5-1-3-1, das mit einem vorschiebenden Spieler Druck auf den gegnerischen 6er aufbauen soll. Schafft man diesen Druck aber nicht auch in eine Störung des gegnerischen Spielflusses umzusetzen, findet man sich zu häufig in Situationen wieder, in denen die 6er viel zu viel Platz im eigenen Zentrum hergeben. So wie Daniel es in seiner Analyse zum Spiel gegen die SV Elversberg aufzeigte:
Entweder Baumgart bekommt es hin, dass die eigenen 6er nicht zu häufig springen müssen oder er kriegt die restlichen Spieler dazu die freigewordenen zentralen Räume zuzulaufen. Der eigentlich defensive Ansatz wird noch zu häufig durch individuelle Ungenauigkeiten im Anlaufen oder der eigenen Positionierung zerstört, sodass die beiden 6er zu viel alleine bewältigen müssen.
- Vertikalität konsequenter umsetzen
Es kann nicht der Gedanke Baumgarts sein eine kurzpassspiel-dominante Mannschaft ohne jegliche Vertikalität zu sein. Man hat diese Vertikalität nach Ballgewinnen, nicht umsonst ist man die Mannschaft mit den meisten Kontertoren der Liga. Aber dies muss sich langfristig auch im geordneten Spiel mit Ball wiederfinden.
Mutiger durchs Zentrum aufbauen. Den Gegner wirklich gnadenlos locken und dann selbst in die Offensive gehen. Eben genau dieses „spektakuläre“ Spiel, das Baumgart auf seiner Antritts-Pressekonferenz den HSV-Fans versprach.
Momentan ist man noch zu sehr im eigenen Ballbehauptungs-Modus gefangen. Vielleicht ist es jetzt einfach der Moment zu sagen: Dann machen wir es jetzt richtig. Mit wirklichem Mut spielen, nicht nur, wenn man den Ball gewinnt. Sondern auch wenn man selbst Abstoß hat. Gelingt es dem HSV das Tempo aus Umschaltsituationen ins eigene Spiel über längere Phasen zu etablieren sähe die Bilanz schon direkt ein wenig besser aus.
2. Phänomen „Individuelle Fehler“
Es ist bezogen auf den HSV das Unwort (ja zwei Wörter) des Jahrzehnts: Individuelle Fehler. Praktisch immer dann, wenn es beim HSV nicht mehr läuft sind es individuelle Fehler. Komischerweise dann, wenn es läuft ist es nie die Individualität der Spieler sondern das Team wird hervorgehoben. Bei Fehlern ist es aber immer das Individuum.
Deshalb ist mir der Erklärungsansatz der individuellen Fehler, die abgeschalten werden müssten, um wieder erfolgreicher zu sein zu einfach. Natürlich müssen diese verhindert werden aber woher kommen sie denn, dass man sie abschalten kann?
Profifußballer beherrschen 5-Meter-Querpässe. Bekommen sie diese in einem Spiel nicht hin ist ihre Qualität nicht auf wundersame Weise abhanden gekommen, sondern ein nicht zu unterschätzender Faktor tritt auf einmal auf die Bühne: Verunsicherung.
Und diese Verunsicherung beruht beim HSV auf 2 großen Punkten: Druck und fehlende Eingespieltheit.
Druck: Das soll keine Ausrede sein, jede Mannschaft hat Druck. Das ist kein HSV-singulares Problem. Aber nicht nur der HSV spielt innerhalb einer Saison mal schlecht. Das wird dann häufig auch außer Acht gelassen. Es werden sich dann die 2-3 Teams davor angeschaut aber die 14-15 Teams dahinter eben nicht. Diese Teams haben Druck und können meist nicht damit umgehen, manchmal reicht die Qualität auch nicht.
Aber es ist eben auch kein Zufall, dass so häufig der Trainer getauscht wird mit der Begründung er erreiche die Mannschaft nicht mehr. Er erreicht sie nicht mehr, weil die Strukturen, die Methoden zu festgefahren sind. Die Spieler erleben auf dem Spielfeld dieselben Situationen aber wissen nicht wie sie damit umgehen sollen. Ein neuer Trainer soll ihnen dabei helfen dies zu schaffen.
Auch wenn es aus Fan-Sicht manchmal höhnisch in Abrede gestellt wird, aber jeder der rund 25 Spieler eines Profikaders kann im Verhältnis zu allen aktiven Fußballern Deutschlands sehr gut Fußball spielen. Das ändert sich auch nicht schlagartig mit einem Vereinswechsel. Nur hat man häufig Phasen in denen einen der Druck, den man sich vor allem selbst macht, nicht mehr schnell genug denken lässt und bei Rückschlägen eher den Kopf hängen als wieder aufrichten lässt.
Spielerische Eingespieltheit: Verunsicherung kommt auch daher, dass die Spieler nicht genau wissen was sie in manchen Situationen zu tun haben. Auf dem Spielfeld sind die Spieler auf sich alleine gestellt, also zu elft alleine. Da wird kein laut pfeifender Trainer an der Seitenlinie helfen können. Wissen die Spieler nicht was sie bei hoch pressenden Mannschaften an Lösung 1,2 und 3 parat haben dann wird früher oder später Verunsicherung entstehen.
Und mit jedem Ballgewinn oder eben jedem Ballverlust wird das Spiel in eine Richtung kippen. Und dieses Gefühl entsteht momentan beim HSV. Eine nicht wirklich sattelfeste Spielidee lässt die Spieler zu schnell verunsichern. Sie haben keine selbständigen Mechanismen an der Hand und so kommen dann teils hanebüchene Fehler zustande, die dann später als „individuell“ verkauft werden aber eben Produkt einer unzureichenden Mannschafts- und Trainerleistung sind.
Tore fallen immer aus Fehlern, sonst ginge jedes Spiel 0:0 aus. Eine schlechte Phase einer Mannschaft an Fehlern einzelner Spieler festzumachen ist zu plump, jede Niederlage entsteht daraus, das mindestens ein Spieler seinen Job nicht richtig gemacht hat.
Individuelle Fehler werden erst dann prominent vorgeschoben, wenn es die größeren Böcke sind. Zu kurz geratender Rückpass, Fehler im Spielaufbau, Ballverlust im Dribbling, Torwart greift daneben. Aber das sind ja keine Sachen, die die Spieler nicht eigentlich könnten.
Die Häufung dieser Fehler kommt aus einer Verunsicherung der Spieler. Und diese wird man nur abstellen, wenn man ihnen das richtige Werkzeug zur Hand gibt. Welche Abläufe haben sie beim Angriffspressing des Gegners? Was macht man, wenn der Gegner über den ganzen Platz Mann gegen Mann spielt? Wie geht man mit dem tiefen Block des Gegners um? Wissen die Spiele was sie auf dem Feld zu tun haben werden sie auch selbständig die richtigen Entscheidungen treffen, auf einmal können alle wieder richtig guten Fußball spielen. Und auf einmal beschwert sich keiner mehr über individuelle Fehler.
Also bitte, der HSV macht viele individuelle Fehler aber diese sind Symptom, nicht die Krankheit selbst.
3. Ausblick – Potenziale finden und umsetzen
Halten wir also fest: Der HSV soll defensiv gut stehen und vertikal in die Spitze umschalten. Dafür hat man geeignete Ideen gefunden, an der Umsetzung hapert es momentan sehr, davor ein wenig und es gab trotzdem auch schon Spiele, die als „sehr gut“ eingestuft worden wären.
Der HSV braucht jetzt vor allem eines: Ein Gerüst mit klaren Aufgabenverteilungen, klaren Abläufen über das ganze Feld hinweg. Auch verletzungsbedingt versuchte man einige Spieler hin und her zu schieben, sodass man das Gefühl bekam, dass bei den Rotationen dann doch 1-2 Spieler nicht ganz wussten, was ihre Rolle in dem System sein sollte bzw. ihr Aufgabenprofil nicht wirklich zu den eigenen Fähigkeiten passte.
Mit Ball bedarf es mehr Mut, mehr Vertikalität. Zu sehr ist man noch im eigenen Ballbesitz gefangen. Momentan wünscht man sich die defensiven Ideen eines Baumgarts/Trainerteams kombiniert mit dem selbstüberzeugten Ballbesitz-Ansatzes eines Tim Walters.
Im Ansatz hat der HSV im eigenen Zentrum genügend Spieler, die mit dem Aufbau durch die Mitte kein Problem haben sollten. Jetzt braucht es die stringente Umsetzung, um den Gegner in Bewegung zu bekommen.
Und defensiv braucht es wieder mehr Kompaktheit, sowohl vertikal als auch horizontal. Die guten Abläufe zu Saisonbeginn, aber auch noch gar nicht so lange her gegen Düsseldorf und Magdeburg waren vielversprechend und sind jetzt ein wenig abhanden gekommen. Genügend Qualität hat der HSV mit Hefti, Perrin, Schonlau, Elfadli und Meffert. Alles Spieler, die für eine defensive Stabilität stehen könnten, Ausreden gibt es weder für Spieler noch Trainer.
Kriegt der HSV sein eigenes Spiel wieder mehr etabliert, kann das zurzeit doch sehr ins Wanken geratende Schiff recht zügig wieder auf Kurs kommen. Spielt man weiterhin nichts Halbes und nichts Ganzes wird man wohl doch schnell Schiffbruch erleiden.