Bevor es losgeht, noch einmal kurz etwas in eigener Sache: Nächstes Jahr, im späten Mai oder Anfang Juni, wird das Rautenball WM-Vorschauheft das Licht der Welt erblicken – mit detaillierten Vorschauen zu allen Teams, vollständigen Kadern und Prognosen. Wie immer: ohne Werbung und kostenfrei.
Ob Ransford-Yeboah Königsdörffer im nächsten Jahr bei einem WM-Turnier spielen darf, entscheidet sich in dieser Woche. Für die ghanaische Nationalmannschaft geht es nämlich um alles. Auch wenn Königsdörffer dort aktuell keine Rolle spielt, ist bis zum Nominierungsfenster noch etwas Zeit.
Beim HSV ist RYK derzeit gesetzt – doch auf Social Media fragen sich manche, warum das so ist. Gleichzeitig wird Robert Glatzel gefordert – und mit ihm die Rolle eines klassischen Zielspielers in der Box. Eine Stürmerrolle, die in der Aufstiegssaison des HSV elementar war. Für viele Fans ist es daher schwer nachzuvollziehen, dass man nun auf diesen Strafraumstürmer verzichten kann.
Die Antwort auf diese Frage findet man – wie immer – auf dem Rasen. Und eigentlich ist sie recht simpel: Das Spiel des HSV besitzt mit Ransford-Yeboah Königsdörffer deutlich mehr Variabilität und Flexibilität. Doch wie genau zeigt sich das auf dem Feld? Das schauen wir uns jetzt genauer an.

Zunächst muss man verstehen, was der HSV in seinen Positionsprofilen eigentlich beabsichtigt. Im Gegensatz zur Preseason ist der zentrale Innenverteidiger (Vuskovic) nun der klare Anker im Spielaufbau. Ohne Ball bleibt er permanent tief und füllt die zentrale Position nicht mehr auf – anders als es etwa Soumahoro oder Elfadli in den Testspielen vor der Saison taten. Die beiden Halbverteidiger, Capaldo und Elfadli, verfügen dagegen vor allem mit Ball über etwas mehr Freiheiten. Der HSV eröffnet sein Spiel meist über die linke Seite, wo die Innenverteidiger durch „Spielen und Gehen“ in höhere Zonen vorrückt. Das hängt auch mit den Profilen von Elfadli und Capaldo zusammen, die im Vergleich zu einem Halbverteidigerpaar wie Omari und Torunarigha andere Qualitäten mitbringen.
Auf der rechten Schiene agiert Motor Gocholeishvili, der fast ausschließlich die Breite hält. Muheim hingegen spielt auf der linken Seite deutlich tiefer und rückt häufiger ins Zentrum ein. Die Breite auf dieser Seite wird nämlich primär durch Jean-Luc Dompé erzeugt.
Die vier verbliebenen zentralen bzw. halb-zentralen Spieler genießen in dieser Struktur viele Freiheiten. Remberg agiert in der Regel als zentraler Spieler vor der Dreierkette, kann seine Position aber horizontal variieren – abhängig vom Partner im Zentrum. Etwas vertikaler und freier agiert sein Nebenmann auf der Sechs: Albert Sambi Lokonga. Er schob in Phasen tiefen Ballbesitzes des HSV teils bis in die letzte Linie vor – ein klarer Bestandteil des Matchplans.
Rayan Philippe hält meist die rechte Halbspur und orientiert sich in seiner Positionierung an Stürmer Königsdörffer, der im Offensivspiel viele Freiheiten genießt. Königsdörffer ist in verschiedenen Räumen zu finden: immer wieder kippt er diagonal aus seiner zentralen Stürmerrolle heraus und beteiligt sich an Überladungen auf der Außenbahn oder in der Halbspur. Wie ausgeprägt dieser Overload sein kann, zeigte sich eindrucksvoll in der ersten Halbzeit gegen Mainz 05, als der HSV einen tiefen Einwurf auf der linken Seite hatte und Ransi ohne Gegenspieler den Ball auf Muheim klatschen lassen konnte. Je nach gegnerischer Taktik kann der HSV durch Königsdörffers Bewegungen also temporäre Überzahlen herstellen und gegnerischen Druck elegant auflösen.

Es ist jedoch nicht nur das Auffüllen und Verbinden, das die aktuelle Stürmerrolle beim HSV prägt. Entscheidender sind immer wieder die raumöffnenden Läufe des jungen Angreifers. So auch vor dem 1:0. Elfadli kombiniert sich gemeinsam mit Muheim und Dompé aus der Tiefe der eigenen Abwehr heraus. Da Dompé weit zurückfällt, attackiert Königsdörffer die Breite des Spielfelds – konkret den Rücken von Dompé. Im Gegenzug rückt Philippe stärker ins Zentrum ein.
Der HSV agiert in dieser Szene praktisch Mann gegen Mann gegen die Mainzer Restverteidigung. Nach seinem Durchbruch verfügt Elfadli über drei klare Optionen:
- Er kann Königsdörffer im direkten Duell mit Hanche-Olsen in die Tiefe schicken, um die Dynamik fortzusetzen.
- Er kann den schnellen vertikalen Pass auf Philippe ins Zentrum suchen.
- Er kann den durch Königsdörffer und Philippe geöffneten Raum selbst andribbeln und das Abspiel bewusst verzögern.
Elfadli entscheidet sich für Option 3 – und daraus entsteht schließlich das 1:0. Dieses Tor wäre nicht möglich gewesen, hätte Königsdörffer das Zentrum nicht aktiv freigezogen und Hanche-Olsen aus der Zone gelockt. Der HSV verstand es in dieser Situation, das Mainzer Mann-gegen-Mann-Verhalten gezielt zu manipulieren, um eigene Dynamik und Tiefenwirkung zu erzeugen.

Eine weitere interessante Szene stammt ebenfalls aus der ersten Halbzeit. Nach einem Mainzer Einwurf auf der rechten Seite erobert der HSV den Ball und hat sofort viel Personal in der offensiven rechten Zone. Sambi Lokonga spielt zunächst aus dem Druck heraus auf den tiefer stehenden Capaldo. In dieser Phase stehen kurzzeitig vier HSV-Spieler auf einer leicht diagonalen Linie – positionsstrukturell nicht ideal. Capaldo wird daraufhin zum Seitenaus gedrückt, findet aber erneut Sambi Lokonga, der direkt vertikal auf Königsdörffer in die Tiefe weiterleitet.
Ab diesem Moment greifen Prinzipien, die man bereits aus der Vorsaison kennt: Der HSV formt auf der Außenbahn einen Diamanten. Sambi Lokonga fungiert dabei als tiefer Punkt, während Gocholeishvili den Raum vor dem breit stehenden Königsdörffer vorderläuft. Mit diesem Lauf öffnet er den Raum hinter der Kette, in den Philippe startet. Königsdörffer spielt den Pass, Philippe verzieht knapp – ein Angriff, der fast schon typisch „polzineque“ anmutet.

Im Spiel gegen Mainz profitierte der HSV deutlich von seinem neuen Zielspieler für lange Bälle: Albert Sambi Lokonga. In den zahlreichen Mann-gegen-Mann-Situationen fand er sich häufig im direkten Duell mit dem Japaner Kaishu Sano wieder. Der HSV setzte in dieser Partie gezielt auf lange Zuspiele – insbesondere auf direkte, vertikale Bälle, die Sambi Lokonga in diese Duelle bringen sollten. Aufgrund seiner physischen Präsenz und Größenvorteile gegenüber Sano war er dafür prädestiniert.
Diese strategische Anpassung brachte mehrere Vorteile: Zum einen musste Königsdörffer nicht in Luftduelle gezwungen werden, in denen er meist unterlegen ist. Zum anderen blieb er dadurch für die attackierenden Tiefenläufe nach möglichen Verlängerungen Lokongas verfügbar. Genau dieses Prinzip wurde beim 2:0 spielentscheidend.

Warum ist Ransford Königsdörffer so wichtig für das Spiel des HSV?
Die Antwort liegt in seiner Polyvalenz. Mit Königsdörffer auf dem Feld verfügt der HSV über mehrere strategische Optionen: Er kann in tieferen Zonen durch seine flexible Positionierung Überzahlen herstellen und so Drucksituationen auflösen, ohne direkt in das vertikale Spiel gehen zu müssen. In höheren Zonen kann er dank seiner Beweglichkeit Räume bespielen oder für Mitspieler öffnen, und im Umschaltspiel bringt er – vor allem in Kombination mit Rayan Philippe – enorme Geschwindigkeit und Tiefendynamik ein.
Sicherlich besitzt Königsdörffer nicht die Lufthoheit oder Abschlussqualität eines Selke oder Glatzel, doch er kompensiert das durch Qualitäten, die für den HSV in der Gesamtheit mehr Wert haben als reine Präsenz in der Box.
Ein Startelfeinsatz von Robert Glatzel hätte gegen Mainz im gegebenen Konstrukt schlicht keinen Sinn ergeben. Sein Spiel ist zu eindimensional für die aktuelle Struktur. Auch wenn man in einzelnen Situationen einen klassischen Zielspieler vermissen mag – derzeit ist im System des HSV kein Platz für eine traditionelle Neun.
